Dies werde kein Emily-Dickinson-Liederzyklus wie bei Großmutter, versprach der amerikanische Komponist Kevin Puts im Hinblick auf sein Projekt „Emily – No Prisoner Be“, das nun bei den Bregenzer Festspielen seine Uraufführung feierte. Und er sollte Recht behalten. Trotzdem gut, dass er es nochmal erwähnte. Denn bei einem Abend, der aus 25 Liedern auf Texte einer Dichterin des 19. Jahrhunderts besteht, denkt man unwillkürlich an einen Herrn in Frack, der unbeweglich in der Beuge eines Flügels steht und gepflegt Kunstlieder der Romantik singt.
Durch Dickinsons Gefühlswelt
Von Kunstliedern mag man bei Puts hingegen erst gar nicht sprechen, Flügel und Herr im Frack gibt es ohnehin nicht – stattdessen ein verstärktes Streichtrio (Time for Three) und mit Joyce DiDonato eine der renommiertesten Mezzosopranistinnen, die uns nun mit ihrer fantastischen Stimme durch die Gefühlswelt der Emily Dickinson führt. Regisseur und Bühnenbildner Andrew Staples hat dafür eine atmosphärische Bühne voller verknoteter Gardinen und pendelnden Glühbirnen geschaffen, in deren Mitte ein schwerer Schreibtisch thront. Man kann darin Dickinsons Zimmer in Amherst, Massachusetts, sehen, in dem sie zurückgezogen lebte.
Systemsprengerische Art
Man darf bezweifeln, dass die Lyrik dieser bemerkenswerten Frau hierzulande einem größeren Kreis bekannt ist, sind ihre Gedichte doch selbst in deutscher Übersetzung nicht ganz leicht zu verstehen. Doch das Gefühl, erst mal ein Anglistik-Studium absolviert haben zu müssen, bevor man sich einem Dickinson-Liederzyklus stellen kann, verflog bereits in den ersten Minuten. Das Streichtrio eröffnet die Szene mit maximaler Energie und sägt mit Verve auf den Instrumenten, bis DiDonato mit den Zeilen „They shut me up in Prose, As when a little Girl“ (“Sie schließen mich in Prosa ein, wie ehedem als Kind“) ähnlich aufgebracht einsteigt.
Emily Dickinson (1830-1886) entstammte einer calvinistischen Familie. Sie lebte zurückgezogen, schrieb aber viele Briefe. Der Umfang ihres dichterischen Schaffens wurde jedoch erst nach ihrem Tod offenbar. Möglich, dass ihre unkonventionelle, systemsprengerische Art den Zeitgenossen suspekt war. Ihr erster Herausgeber griff jedenfalls noch unbekümmert in ihre Texte ein. Das ist heute anders. Dennoch erschweren die verschiedenen Überschreibungen eine Rekonstruktion.
An wen gingen die Liebesgedichte?
Kevin Puts hingegen macht uns den Zugang zu den Texten leicht. Das ist sein großer Vorzug. Seine Musik ist unkompliziert und eingängig, teilweise sogar ohrwurmhaft, dennoch besitzt sie ein untrügerisches Gespür für die vielen Ausdrucksnuancen der Dickinson-Welt. Diese reicht von Wut und Trotz über Vergänglichkeits-Betrachtungen bis hin zu Zeilen voller Begehren, über deren Adressat oder Adressatin die Nachwelt sich bis heute uneins ist. War es ein Geistlicher oder hatte Dickinson ein Verhältnis mit ihrer Schwägerin? Das spielt an diesem Abend, der Lyrik, Musik, Bühne und DiDonatos umwerfende Stimme zu einem Gesamtkunstwerk verbindet, jedoch keine Rolle.
Weitere Aufführung: 16. August, 20 Uhr, Werkstattbühne Bregenz.
Bregenzer Festspiele ziehen Bilanz
- Kurz vor Ende der Festspielsaison am Sonntag, 17. August, haben die Bregenzer Festspiele eine erste Bilanz gezogen. Innerhalb von fünf Wochen standen rund 80 Veranstaltungen auf dem Programm des Sommerfestivals, das erstmals unter der Intendanz von Lilli Paasikivi stattfand. Die Finnin brachte eine deutlich „nordische“ Note mit ins Programm, unter anderem mit der finnischen Tanzkompagnie von Tero Saarinen, die an zwei unterschiedlichen Produktionen beteiligt war. Laut Festspiele kam das beim Publikum gut an.
- Den „Freischütz“ auf der Seebühne besuchten in seiner zweiten Spielzeit 180.687 Menschen, das entspricht laut Festspielen einer Auslastung von 97 Prozent. Klingt viel, hätte aber bei entsprechendem Wetter besser sein können. Im vergangenen Jahr lag die Auslastung bei 100 Prozent – das teuflische Spektakel in der Regie von Philipp Stölzl hatte das Zeug zum Publikumsliebling, doch im Juli dürfte es vielen einfach zu nass und zu kalt gewesen sein. Dennoch gab es nur zwei Regenabsagen bzw. Verlegungen ins Festspielhaus (im letzten Sommer war es eine).
- Endspurt und Abbau: Ende Oktober wird vom Freischütz-Dorf nichts mehr zu sehen sein. Dann beginnt allmählich der Aufbau fürs nächste Jahr: Am 22. August 2026 hat Giuseppe Verdis „La Traviata“ Premiere.
- Als Oper im Festspielhaus feiert am 23. Juli 2026 „Die Ausflüge des Herrn Broucek“ von Leoš Janácek Premiere.
- Vorschau: Die Bregenzer Festspiele 2026 finden vom 22. Juli bis 23. August statt. Der Vorverkauf startet am 29. September 2025. Tickets sind ab dann verfügbar unter bregenzerfestspiele.com und Telefon +43 5574 4076. (esd)