Ja, dieses Berlin, als die Mauer noch stand. In der Wiener Straße starrten wir in langen Nächten, wie in Platons Höhle, auf die Mauern vor uns und versuchten aus unserem Schatten die Welt zu erklären. In jedem Keller, wo Licht brannte, wurde auch Bier ausgeschenkt und die Grenze war eben das Ende der Welt.

Dass es je eine Fortsetzung geben wird, dort, aus solchen Nächten, hat nie niemand gedacht. Kunst zählte mehr als heute, die Theater waren Tempel, die ihren eigenen Niedergang verkündeten. Da wurde ich Referendar der Justiz, von Freiburg kommend, und saß tagsüber in Berlin Moabit, im berühmten Saal 500, dem Schwurgerichtssaal am Katzentisch der Referendare: die Akte gelesen, der erste Fall.

Ein Fall im Wedding

Er spielte in einer Weddinger Kneipe, es ging wie immer um ein Nichts oder um Hertha, vielleicht auch um Politik. Das Opfer war schwer zu Fuß, ein kranker Metzger, mit einem kaputten Rücken auf zwei Krücken. Und der ihm die Ohrfeige versetzte, war ein dünner Kerl, der irgendwo bei der Stadt arbeitete, aber deutlich jünger.

Der mit den Krücken in der 24-Stunden-Kneipe, wo alle sich lieben und saufen, fiel auf seinen Hinterkopf. Er blieb liegen, und sie setzten ihn auf und lehnten seinen Körper gegen eine Säule aus Bierkästen. Dort saß er mit geschlossenen Augen, den Kopf wie ein Schlafender gesenkt.

Der Wirt rief die Frau dieses Mannes. Die kam, und man sagte ihr, er sei betrunken. Da sei er eingeschlafen. Sie fühlte nicht an seinem Hinterkopf das verklebte Haar vom frischen Blut, schleppte ihn auf dem Rücken heim, ließ ihn schlafen und hörte ihn schwer atmen und dachte, er träumt und da starb er an einem Blutgerinnsel. Diese Frau wurde als Zeugin gehört, sie war gebrochen und gab sich die Schuld, die Mitschuld.

Absurdes Theater im Gericht

Der Gerichtssaal war voll. Voll mit diesen Freunden aus der Kneipe. Den einen begleiteten sie zur Beerdigung, den anderen jetzt vor den Richtertisch. Sein Anwalt war unerfahren und hatte erkennbar Furcht vor der Kammer. Der Vorsitzende mit Kriegserfahrung, ein zackiger Preuße, ließ ihn ausreden, aber hörte nicht zu. Das merkte jeder.

Dann bot sich einer der Gäste spontan als Zeuge an, ganz stolz. Er sagte, er heiße Hase, aber man nenne ihn auch Tülütütü, oder Mömmelmann. Da lachten alle. Es war absurd. Der Verrückte schaute sich um und fragte: „Wer ist der Angeklagte?“ Der Anwalt sagte: „Ich bin es nicht.“ Und alle lachten wieder.

Das Urteil lautete, glaube ich, vier Jahre. Der Verurteilte rief zu seiner Lebensgefährtin: „Iss ja, damit du nicht zu dünn wirst!“ Das sagte er in einem scharfen Dialekt. Er kam aus der Untersuchungshaft und ging in Strafhaft.

Warum der Streit? Das wusste niemand. Die Frau des Opfers war mittelgroß, sie war für die Zeugin zum Friseur gegangen, aber konnte nicht sprechen. Sie hat ihn tatsächlich, den Bewusstlosen, mit den Armen über den Schultern, auf den Rücken genommen und nach Hause, wie einen Sack geschleppt. Ausgezogen, das Gesicht gewaschen, aber nicht das Blut gesehen. Man hätte ihn retten können. Der Wirt sagte: „Was geht es mich an?“ So war das.

Abends zogen wir durch die Stadt. Kreuzberg, erst 61, dann 36. Dort tranken die Vielen. Freunde eröffneten am Südstern ein kleines Theater, oder war das später? Zum ersten Mal begriff ich diese Bühne der Welt. Die Sprachlosigkeit der Opfer kann man nicht spielen. Und das Gelächter um einen Trottel auch nicht. Und der Anlass wäre jedem Theatergebilde zu dünn, sich damit zu verbinden.

Die Krücken des Toten, die hat die Frau nie abgeholt. Glaube ich zumindest. Wenn ich sie heute beschreibe, so muss ich lügen. Sicher haben alle, die Gemeinschaft der Freunde aus der Weddinger Kneipe, am selben Abend, da das Urteil verkündet wurde, zusammen gesoffen und den Fall neu verhandelt.

Dieses besungene Wedding hat eine grausame kalte Seite, dort wo es zu Ende geht. Berlin ist eine Stadt für Quicklebendige, wer abfällt und unglücklich aufschlägt, dem hilft niemand. Und die ihm helfen, stehen am Ende in der Schuld wie mit nackten Füßen auf Scherben.

Als ich die Akte las, meine erste, und die Bilder des Toten sah, die Schnitte am Kopf, wie das Haar wegrasiert wird, und der Obduktionsarzt berichtet die Todesfolge: Da hat sich das Lesen verändert und das Zuschauen. Denn den Toten ins Gesicht zu sehen, das öffnet einen Nebel. Eine Obduktionsmappe schließt die Fiktion von Theater, Literatur und Film über das Verbrechen und öffnet eine Traurigkeit, die man nie wieder loswird – als würde man gezwungen, dasselbe Bild jeden Morgen neu anzuschauen.

Alle tun so, als stürbe nichts

Wenn einer für nichts stirbt, tun alle so, als stürbe nichts. Und lassen ihn liegen, abholen und wegtragen. Dann liegt er gewaschen in seinem Bett, und das Übersehen tötet ihn. Von so vielem, was ich gesehen, hat das Vergessen alles genommen. Aber diese Geschichte treibt mich vor sich her wie eine Kinderpeitsche den Kreisel.

Ich habe den Namen des Angeklagten vergessen, den seines Toten auch. Ich habe diese Geschichte Hunderte Male erzählt. Immer mir selbst. Andere hörten zu. Es verhält sich wie mit dem Drachen an der Schnur: Je höher er steigt, desto kleiner wird ihm alles. Doch es braucht nicht viel, dass sich die Erinnerungen wieder bewegen, in meinem Innern. Dann beginnen sie zu leben, ganz so wie eine Gebetsmühle, die sich dreht, weil eine Hand sich danach ausstreckt.

Ich zog abends nach meinem ersten Prozess durch Berlin, und eine Freundin führte mich am nächsten Tag hinter die Kulissen der Schaubühne. Wir konnten den Bühnenarbeitern zusehen. Ich weiß nicht, welches Stück. Ich war mehrmals dort am Nachmittag. Einmal bauten sie einen riesigen Affen. Dann haben sie die Mauer geöffnet. Ich sagte noch, man müsste die Mauer von beiden Seiten öffnen, sonst kommt keiner hindurch, das kam komisch an.

In der Referendarsgruppe waren zwei Frauen, 20 Männer. Das wäre heute undenkbar. Die Justiz wird weiblich. Referendarinnen, die zur Ausbildung bei uns im Büro arbeiten, sind 22, haben bald zwei Staatsexamen, sprechen fünf Sprachen, waren zehn Monate im Ausland, beherrschen die anvertrauten Fälle auf eine Art, die mich zum Staunen bringt. Ich bin vor dem Mauerfall keiner Vorsitzenden begegnet.

Richterinnen saßen immer nur neben dem Vorsitzenden, nie in der Mitte. Eine ältere Richterin auf der Zivilstation war müde von den Kämpfen. Sie war die Klügste der Kammer. Das nützte nichts. Der Vorsitzende, der später eine Mietkammer übernahm, konnte nicht rechnen, aber sein Selbstvertrauen warf den längsten Schatten. Auch hier weiß ich noch den ersten Fall. Eine Frau klagte gegen ihren Zahnarzt. Und sie bekam nicht Recht. Es war verjährt. Ein einfaches Urteil. Ich schrieb es zur Probe.