Als in der Nacht vom 27. November 1997 der Rettungsdienst zu einem Einsatz nach Weinstadt-Beutelsbach gerufen wurde, war es schon zu spät. Zu spät für das fünfjährige Pflegekind Alexander und fast zu spät für seinen ein Jahr älteren Bruder Alois und ein weiteres Pflegekind Andreas, den Ältesten des Trios. Untergebracht in einer Vorzeigefamilie mit drei eigenen Kindern, einer Frau, einer gelernten Kinderpflegerin, und einem Mann, Zeitsoldat und Waldorfpädagoge. Also beste Voraussetzungen, um doch noch beim zweiten Start eine Chance auf ein gutes Leben zu bekommen.
Es war ein Kriminalfall, der damals regional und überregional vor allem Entsetzen, Fassungslosigkeit, Unverständnis und Trauer auslöste. Und ein Fall, der einen nie mehr loslässt. Aber von Anfang an.
Im November 1997 saß ich als damaliger Leiter der Inspektion Ermittlungen (IE) der Kriminalpolizei Waiblingen frühmorgens in meinem Büro, ging die Post durch und wartete auf den Kommissar vom Dienst. Dieses Procedere war damals noch so üblich. Die Kriminalpolizei versah grundsätzlich Tagesdienst.
Um aber Fälle, die außerhalb der normalen Bürozeiten anliefen, ebenfalls kriminalpolizeilich betreuen zu können, gab es einen Bereitschaftsdienst, den abwechslungsweise alle Kolleginnen und Kollegen der Kriminalpolizei leisten mussten, angeführt vom Kommissar vom Dienst. Und dieser informierte den IE, der dann die in der Nacht oder am Wochenende angelaufenen Fälle an die Fachdezernate verteilte.
Gesicht wie bei einem Greis
Man hatte mich bereits darüber informiert, dass es in der Nacht einen Fall gegeben hatte, der von der Kriminalpolizei übernommen worden war, und dass der Kommissar vom Dienst ausgerückt sei. Kurze Zeit später erschien der Kollege bei mir, erläuterte den Einsatz und legte mir Bilder eines toten Kindes vor.
Bei dem Kollegen, den ich namentlich außen vor lasse, handelte es sich um einen ausgesprochen erfahrenen und besonnenen Kollegen, der emotional angefasst wirkte, was ich nach Betrachten der Bilder sofort verstand. Die Bilder zeigten ein totes Kind, verhärmt, abgemagert bis auf die Knochen, ein Gesicht wie bei einem Greis, was mir bis dahin in meiner knapp 20-jährigen Dienstzeit noch nicht begegnet war.
Meine damalige Wahrnehmung, meine Gefühle mag ich auch gar nicht in Worte fassen. Die Bilder, die bei mir auf meinem Schreibtisch lagen, zeigten ein Kind, bei dem man davon ausgehen musste, dass es verhungert war. Etwas, das bezogen auf unsere Region, außerhalb meiner damaligen Vorstellungskraft lag und etwas, das in Deutschland unvorstellbar erschien.
Mein Kollege erläuterte den nächtlichen Einsatz, berichtete vom Rettungsdienst und vom Notarzt, die vor Ort waren und die nicht mehr helfen konnten. Er sagte, dass noch weitere Kinder, drei leibliche und zwei Pflegekinder in der Familie lebten. Und die Pflegekinder wohl auch in einem kritischen Zustand seien. Er ließ mich noch wissen, dass Alexander vor seinem Tod noch mit einem Leberwurstbrot und Milch versorgt worden sei. Der Pflegevater habe sich um ihn gekümmert, ihn am Abend und in der Nacht betreut.
Nach dem Lagevortrag übertrug ich den Fall dem Dezernat 1, das unter anderem zuständig war für Ermittlungen in Todesfällen, also auch für Mord. Ich informierte postwendend meine Vorgesetzten. Für mich war unabhängig von der unglaublichen Tragödie und dem Schicksal, das dieser Fall mit sich brachte, sofort klar, dass er Wellen schlagen würde. Und die ließen nicht lange auf sich warten.
Das Dezernat 1 übernahm die weiteren Ermittlungen und brachte Erstaunliches zutage. Die drei Pflegekinder waren aus dem Bayrischen nach Weinstadt-Beutelsbach in diese Familie gegeben worden und wurden durch das bisherige Jugendamt in Bayern betreut. Etwas, das mich damals irritierte, mich aber in meiner Aufgabenstellung grundsätzlich nichts anging. Das Jugendamt in Waiblingen war demnach nicht zuständig, oder vielleicht doch?
Ermittlungen gegen das Jugendamt
Die Übergabe der Verantwortlichkeiten war damals im Gange, aber noch nicht so richtig umgesetzt. Klar war jedenfalls, die drei Pflegekinder waren total vernachlässigt worden und der fünfjährige Alexander war verhungert. Dies an der Stelle nur deshalb, weil sich natürlich von Anfang an die Frage stellte, ob das zuständige Jugendamt hier unter Umständen etwas versäumt hatte. Es wurde im weiteren Verlauf gegen das Jugendamt wegen fahrlässiger Tötung ermittelt.
Der Wohnort der Familie: Weinstadt-Beutelsbach, im Speckgürtel von Stuttgart, ein schönes Haus, in einer ordentlichen Gegend. Eine Gegend, wo die Polizei üblicherweise nur Streife fährt und selten zum Einsatz kommt. Die Pflegeeltern: Vorzeigepflegeeltern. In der Familie drei leibliche Kinder, davon ein Kleinkind. Eigentlich beste Voraussetzungen für die drei Pflegekinder.
Dieses Bild wurde von der Familie erfolgreich nach außen gespiegelt und von dort auch bestätigt. Gegenüber Besuchen, gegenüber Behörden und auch gegenüber der Bevölkerung, die in Beutelsbach um diese Familie herum lebte und wo man sich fassungslos immer wieder die Frage stellte: Warum hat hier niemand etwas mitbekommen?
Weinstadt-Beutelsbach – eine 8000-Seelengemeinde. Wo man sich untereinander kennt. Wo man aufeinander achtet, wo man aber auch üblicherweise mitbekommt, wenn etwas derartig aus dem Ruder läuft. Wie konnte es passieren, dass ein fünfjähriges Kind, das von einem Jugendamt in eine Familie gegeben wurde, so vernachlässigt wird, dass es verhungert?
Die leiblichen Kinder waren gut versorgt
Die Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort ihre Ermittlungen durchführten, hielten mich auf dem Laufenden. Rasch erfuhren wir, dass die leiblichen Kinder bestens versorgt waren und vor allem auch gesund und gut ernährt. Das galt für die beiden anderen Pflegekinder, den Bruder von Alexander und dem weiteren Pflegekind Andreas nicht. Sie wurden sofort in eine Klinik gebracht, wo man sie Gott sei Dank retten und wieder aufpäppeln konnte. Beide waren unterernährt, und lange wäre es wohl nicht mehr gegangen.
Die Kolleginnen und Kollegen, die sich eine ganze Zeit lang kümmerten, berichteten über Fortschritte, aber auch darüber, dass das Krankenhauspersonal festgestellt hatte, wie die Kinder Vorräte anlegten und Essen bunkerten. Einerseits freuten wir uns darüber, andererseits war klar, dass Menschen so ein Verhalten nur dann an den Tag legten, wenn sie diese schlimmen und negativen Erfahrungen machen mussten und fast verhungert wären. Die Ermittlungen brachten noch so manch Unschönes ans Tageslicht. Mir kam es vor wie in einem grausamen Märchen der Gebrüder Grimm.
Reitunterricht für die eigenen Kinder
Die leiblichen Kinder hatten Reitunterricht, es gab Zugang zu Pferden und einen Hund. Mit den leiblichen Kindern schien alles in bester Ordnung. Die Pflegekinder wurden bestraft. Und die Strafe mündete in der Regel in das Einsperren in ein dunkles Zimmer und Nahrungsentzug. Die Küche war meist verschlossen.
Was dafür die Motivation war? Es gab verschiedene Theorien und Wahrheiten, manches lüftete sich stückweise auch erst im Laufe des Prozesses vor dem Landgericht Stuttgart. Eine war wohl, dass die Ehe der Eltern/Pflegeeltern aufgrund eines außerehelichen Verhältnisses strapaziert war. Eine andere, dass die Pflegemutter durch die Pflege und Erziehung von sechs Kindern überfordert war. Ein Umstand, der noch mehr Gewicht bekam, als klar wurde, dass die Familie auch noch gelegentlich Tageskinder bei sich aufnahm und mehr als sechs Kinder zu betreuen waren.
Bei der Betreuung spielte der männliche Part – also der Vater – eine kleinere Rolle. Er hatte sich wohl aufgrund des außerehelichen Verhältnisses der Frau zurückgezogen. Natürlich wurde auch der monetäre Hintergrund durchleuchtet und geprüft, ob mangelndes Geld zu solchen Verhältnissen geführt hatte. Das konnte aber schnell abgeräumt werden. Die Familie hatte ausreichend Geld zur Verfügung. Für die Pflegekinder wurden monatlich annäherungsweise 3300 D-Mark überwiesen, und der Familie standen ausreichende Einkommen, auch aus der Arbeit des Vaters zur Verfügung. Also kein Motiv.
Demgegenüber stand ja auch die Tatsache, dass es den leiblichen Kindern materiell an nichts fehlte und nur die Pflegekinder unterversorgt wurden. Dies hatte sich über einen längeren Zeitraum aufgebaut und etwa einem Jahr vor dem Tod von Alexander festgesetzt. Die beiden Brüder hatten auch noch eine Halbschwester, die sie immer mal wieder besucht hatte. Allerdings ein Jahr vor dem Tod von Alexander wohl zum letzten Mal.
Alkoholexzesse sollten ihr Verhalten erklären
Die Familie hatte ein Lügenkonstrukt entwickelt, um unangenehme Besuche fernzuhalten oder so zu beschwichtigen, dass kein Verdacht aufkam. Mal wurde die Lebensgeschichte der leiblichen Mutter bemüht, der man Alkoholexzesse zuschob, was das negative Verhalten und die Entwicklung der Kinder erklären sollte. Mal waren die Kinder krank und konnten keinen Besuch empfangen.
Ich verschone Sie gerne mit den vielen unschönen Details, die Sie heute in Podcasts und anderen Berichten über den darauf folgenden Prozess am Landgericht Stuttgart und den Fall „Alexander“ erfahren können. Das damals älteste Pflegekind Andreas hat sich 19 Jahre später zu seinen Erlebnissen gegenüber einem Journalisten geöffnet. Unter anderem ging es auch um Schadensersatz gegenüber dem Jugendamt.
Es war für meine Kolleginnen und Kollegen ein außergewöhnlicher und für jeden Einzelnen ein belastender Fall. Das Schicksal der drei Pflegekinder ging an keinem von uns spurlos vorüber und der Tod, der in unserer Arbeit ein regelmäßiger Wegbegleiter ist, begegnete uns hier auf unerträgliche Art und Weise. Bis heute habe ich abschließend nicht verstanden – warum? Vor allem nicht, warum hat diesen Leidensprozess niemand bemerkt?
Die Eltern/Pflegeeltern wurden nach einem aufwendigen Prozess zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Heute, 27 Jahre danach, sind sie vermutlich wieder auf freiem Fuß. Alexander ist tot. Von seinem Bruder habe ich nie mehr etwas gehört, und Andreas ist geschädigt für sein ganzes Leben. Noch zum Schluss. Von meinem damaligen Chef und Behördenleiter wurde ich für diesen Fall in die Pressekonferenz entsandt. Ich sollte die Polizei vertreten.
Vor der Pressekonferenz, wo ich zum ersten Mal nicht nur der lokalen, sondern auch der überregionalen Presse begegnen sollte, wies mich die Pressestaatsanwältin darauf hin, nicht auf das festgestellte Gewicht von Alexander einzugehen. Ich entgegnete ihr, das wird aber die erste Frage sein, die man uns stellt. Und so kam es auch. Der fünfjährige Alexander wog zu seinem Todeszeitpunkt etwa 7,2 Kilogramm. Für sein Alter wären knapp 20 Kilogramm normal gewesen.