Die Hohenzollernsche Blätter, vom Donnerstag, den 7. September 1893, berichteten: „Burladingen 6. September. Heute Morgen wurde bei der hiesigen Ziegelhütte die Leiche eines Mannes mit durchschnittenem Halse aufgefunden. Der Betreffende, Friedrich Stiefel von der Kuche, lebte in ärmlichen Verhältnissen. Man vermuthet Selbstmord, da bei der Leiche ein Messer gefunden wurde.“ Was war passiert?
Friedrich Stiefel lebte mit seiner Frau Karoline und elf Kindern auf der Schwäbischen Alb, auf der Kuche, einem Weiler bei Hermannsdorf und bewirtschaftete seinen Hof, mehr schlecht als recht. Seine Frau trug das zwölfte Kind unterm Herzen. Auf der Schwäbischen Alb nahte der Winter. Die Vorräte waren knapp. I
m Stall standen zwei Kühe, es gab ein paar Hühner und für die vielen Mäuler, die es zu stopfen galt, viel zu wenig zu essen. Der Großvater von Friedrich Johannes Stiefel war auch schon Opfer eines Mordes geworden, und 50 Jahre später sollte das Schicksal erneut zuschlagen. Friedrich war mit seinem Sohn Albert und dem Fuhrwerk in den Kohlhau aufgebrochen, um drei Stück Langholz zu holen und nach Burladingen zu transportieren. Die Arbeiten im Kohlhau waren schnell erledigt, der Transport dauerte.
Der Verkauf erbrachte nicht die erhoffte Summe. Friedrich musste sich mit 30 Mark zufriedengeben und überlegte, wie er mit dem und dem wenigen, dass er sonst noch hatte die Familie über Wasser halten konnte. Er wusste, dass es zu wenig war, aber trotzdem oder gerade deshalb wollte er noch auf einen Schluck in „den Hirschen“. Den Albert hatte er mit dem Ross und dem Fuhrwerk enttäuscht nach Hause geschickt. Schließlich hatte der Albert gehofft mitzudürfen, um vielleicht einen Schluck Bier oder Most vom Vater zu ergattern.
Der Alkohol tat einfach nur gut
Es war schon Abend, und Albert musste die nun gut zwei Kilometer bis zur Kuche ohne den Vater alleine schaffen. An sich kein Problem. Der dreizehnjährige Albert hatte trotz der beginnenden Dunkelheit keine Angst. Mit dem Fuhrwerk und dem Ross Leopold kannte er sich aus.
Aber als er die Ziegelhütte passierte, blieb Leopold stehen und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Albert erinnerte sich urplötzlich an die vielen schaurigen Geschichten, die man über die Ziegelhütte und ihre Bewohner erzählte. Es lief ihm urplötzlich eiskalt den Rücken hinunter, und in seinem Ärger trat er mit seinem linken Bein nach Leopold, der daraufhin, langsam und sehr gemächlich, seinen Gang in Richtung Kuche fortsetzte.
Zuhause angekommen fragte die Mutter nach dem Vater. Sie hatte gehofft, dass ihr Friedrich den Umweg über die Wirtschaft aussparte und das wenige Geld am Stück nach Hause brachte. Der Albert, der hungrig nachhause gekommen war, bekam noch einen Schluck Milch und ein Stück Brot. Mehr gab‘s nicht. Für die anderen Kinder musste für den nächsten Tag auch noch was übrig bleiben.
Friedrich aber war im Hirschen angekommen. Dort saßen schon ein paar Heimatlose, wie man spöttisch Männer nannte, die schon am Nachmittag in die Wirtschaft gingen und am Stammtisch ging es lauthals her. Friedrich setzte sich dazu und bestellte einen Schnaps und ein Glas Bier. Schnell waren die Männer bei der Sache. Jedem ging es schlecht, und jeder wollte seine Geschichte loswerden.
Auch Friedrich stimmte ins allgemeine Wehklagen ein und beschwerte sich über den schlechten Handel, den er heute gemacht hatte. Zwei Tage Arbeit und dafür gerade mal 30 Mark. Die Geschichten der anderen halfen ihm aber, das Elend mit den anderen zu teilen, und der Alkohol tat einfach nur gut.
Nach der dritten Runde machte Friedrich Anstalten zu gehen. Er hatte noch einen ordentlichen Weg vor sich, und es reichte schließlich auch. Die Nacht war schon über die Schwäbische Alb eingebrochen, und Friedrich spürte den Schnaps und die Biere, die er getrunken hatte. Als er sich aufmachte zu gehen, lief ihm der Nachbar Lebherz über den Weg, der gerade eingetroffen war, um mit seinem Sohn noch einen Krug Most zu trinken.
Lebherz bot ihm an, sich nachher gemeinsam auf den Nachhauseweg zu machen und setzte sich mit seinem Sohn an einen Nebentisch. Das ließ sich der Stiefel nicht zweimal sagen. Flugs saß er wieder am Stammtisch, und rasch ging es dort wieder hoch her. Der Alkohol beflügelte die Geschichten, und als Friedrich die seine nun schon zum sechsten Mal erzählte, wurde der Stiefel immer reicher und der Zimmermann immer ärmer.
Es war eine kühle Septembernacht
Nachdem der Nachtwächter von Burladingen gegen halb zwei schon seine zweite Runde verkündete, schmiss der Hirschen-Wirt den traurigen Rest der Zechkumpane samt Friedrich hinaus. Friedrich stand auf der Straße. Seine Kumpane trollten sich nach Hause, während Friedrich nun den Lebherz suchte, der doch mit ihm nach Hause gehen wollte. Aber der Lebherz und sein Sohn waren nicht mehr da und Friedrich auf sich alleine angewiesen. Aber das machte nichts. Friedrich kannte seinen Weg, nahm seinen Rucksack und machte sich auf.
Es war eine kühle Septembernacht, und er fröstelte. Friedrich ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Die Fahrt nach Burladingen, der Handel um Tannenholz und der Stammtisch. Und es hatte gut getan. Nicht immer nur das Elend daheim und die großen und traurigen Kinderaugen, die ihm sagten, dass zu wenig zum Essen da war.
Er ärgerte sich über sich selbst, denn gegen Ende hatte er doch zu sehr angegeben und eine zu große Klappe gehabt. Er hatte gerade noch zwanzig Mark in der Tasche. Den Rest hatte er im Hirschen liegen lassen. Bei diesen Gedanken wurde es ihm nun doch unwohl. Es war verdammt dunkel, es war kalt und außerdem war er müde. Morgen früh musste er wieder in den Stall und sein wenig Vieh versorgen. Friedrich seufzte.
Da waren sie wieder, die Sorgen der kommenden Wochen. Er hatte zu wenig Geld, um seine Frau und zwölf Kinder zu versorgen. Haus und Hof waren beliehen und weit über Wert belastet. Der Winter lag vor ihm, und er hatte zehn Mark versoffen, anstatt das ganze Geld nach Hause zu bringen. Sie hätten es bitter nötig gehabt.
Er schluckte und hörte unvermittelt ein Knacksen im Wald. Friedrich war auf Höhe der Ziegelhütte angekommen und lauschte in die Nacht hinein. Als er noch einmal ein Geräusch hörte, war es sehr nah. Friedrich nahm noch kurz den Atem seines Mörders im Genick wahr und spürte dann, wie ihm das Messer in den Hals fuhr. Friedrich sackte in sich zusammen und wurde ausgeraubt.
Als man ihn am nächsten Morgen fand, lag ein verstümmelter Körper am Boden. Den Kopf fast abgetrennt, hatte man den gerade mal 42 Jahre alt gewordenen Stiefel liegen gelassen. Einen Meter weiter lag ein blutverschmiertes Messer mit braunem Holzgriff am Boden. Ein Messer, so wie es jeder Bauer hier in der Gegend hatte. Und das Geld war weg.
Das Ende war ein Anfang
Die Ermittlungen wurden von den preußischen Gendarmen übernommen, die aus Hechingen kamen und in Hermannsdorf und Umgebung zuständig waren. Laut Presse vermuteten die Ermittler zunächst Selbstmord. Diese erste Annahme wurde aber aufgrund der Verletzungen rasch wieder fallen gelassen. Die Familie Lebherz, die um 1893 den unteren Hof auf der Kuche bewirtschaftete, geriet mehrmals in den Fokus und Vater und Sohn wurden mehrfach verhaftet. Es konnte ihnen aber nichts nachgewiesen werden. Zwar wurde Untersuchungshaft angeordnet, aber keine Anklage erhoben.
Der Mord an Friedrich Stiefel blieb ungesühnt und seine Familie geriet noch mehr in Not. Karoline Stiefel musste mit ihren zwölf Kindern den Hof verlassen. Der „Stiefelhof“ wurde am 31. Januar 1894 zwangsversteigert. Karoline Stiefel wurden vom Vogt (Bürgermeister) von Hermannsdorf Bettelscheine angeboten, sodass sie mit ihren Kindern dem konzessionierten Betteln nachgehen konnte.
Mehr wollte Hermannsdorf nicht für die Familie tun, obgleich die Gemeinde über einen gut ausgestatteten Armenfonds verfügte. Eine Bleibe hatte sie nicht. Übergangsweise hatte sie ihr Schwager auf dem oberen Hof aufgenommen. Aber das konnte nicht lange gut gehen. Viel zu wenig Platz und viel zu wenig Essen für zwei Familien. Das hätte eigentlich das Ende bedeuten können. Im Winter auf die Straße geworfen zu werden, mit zwölf Kindern und Bettelscheinen, in einer Zeit, wo überall Not herrschte. Aber das Ende war ein Anfang.
Der evangelische Pfarrer Julius Theobald von Haigerloch wollte in Bietenhausen eine Konfirmandenschule gründen und hatte vom grausigen Schicksal der Witwe Stiefel und ihren Kindern gehört. Gegen viele Widerstände angekämpft und allen Widrigkeiten zum Trotz war es im Herbst 1894 so weit.
Karoline Stiefel konnte mit ihren Kindern nach Bietenhausen umsiedeln und wurde die erste Hausmutter der Konfirmandenschulde und dem heutigen Diasporahaus Bietenhausen. Und was dort dann alles geschah, das ist eine andere Geschichte.