Es gibt wenige Verhältnisse, die so anfällig sind für Streit und Unfrieden, wie das Nachbarschaftsverhältnis. Das liegt – glaubt man den Psychologen – vornehmlich daran, dass die meisten Nachbarn immer da sind und die Möglichkeiten eines Entkommens im Wege der Flucht samt Haus im Normalfall begrenzt sind. Dies gilt umso mehr, als anfängliche, schnelle Freundschaften und das nach außen gelebte als gesellschaftliche Konvention implementierte Stereotyp der „guten Nachbarschaft“ als radikale Brandbeschleuniger wirken.

Die in den Medien gerne aufgegriffene Umschreibung einer „nachbarschaftlichen Hölle“ ist damit nicht ohne Berechtigung. Die wahre Hölle aber, geneigte Lesende, ist die Rechtsberatung in nachbarschaftlichen Streitigkeiten, intensiver ist die anwaltliche Hilfslosigkeit vielleicht allenfalls noch im Familienrecht – wobei es im letzteren Bereich tatsächlich häufiger um die Wurst, also objektiv um Wohl und Wehe eines Menschen, gehen kann.

Der Fall, der uns heute beschäftigen soll, spielt am Saum des Bodensees in einer Wohngegend der Reichen und sehr Reichen. Die Grundstücksgrößen haben eine Dimension, in der es normalen Menschen schwerfallen würde, Grundstücksgrenzen überhaupt auszumachen. Weitläufige Grünflächen, umstanden von kleinen Böschungen und großen Hecken, schaffen die Art der Privatsphäre, die man sich wünscht – bei gleichzeitigem freien Blick auf den Bodensee und die Alpen. Gepflegt werden diese Parkanlagen in der Regel von Personal, denn die Eigentümer pflegen andere Freizeitbeschäftigungen. Doch es gibt auch Ausnahmen.

Johannes Stürner ist Rechtsanwalt mit Wurzeln im Hegau. Er schreibt Prosa und Dramen in Fachliteratur und Belletristik. Seine Beiträge ...
Johannes Stürner ist Rechtsanwalt mit Wurzeln im Hegau. Er schreibt Prosa und Dramen in Fachliteratur und Belletristik. Seine Beiträge sind „Real Fiction“.

So der Nachbar des Mandanten. Der Mann musste sich etwas vorzeitig zur Ruhe setzen oder wurde zur Ruhe gesetzt: Nachdem er eine längere Ayurveda-Kur auf Sri Lanka hinter sich gebracht hatte, die er nur dank des dauerhaften und hochdosierten Gebrauchs von Kohlekompretten und des dauerhaften Konsums von englischem Whiskey überstehen konnte, entschied er sich dafür, auf seinem Grundstück zu einer ursprünglichen Lebensweise zurückzufinden. Dies bedeutete für ihn, dass er die ersten Wochen im Jahr damit beschäftigt war, die richtige Kleidung und ein umfassendes Werkzeugarsenal für diesen Zweck zu erwerben.

Im März wurde er zum ersten Mal in einer tarnfarbenen Hose oder einem Outdooroverall gesichtet, wie er trotz Regens auf einem Aufsitzrasenmäher etwa vierzehn Stunden an einem Samstag den gesamten Rasenanteil des Grundstückes in unterschiedlichen Höhenstufen mähte. Dies wiederholte sich nun in den nächsten sechs Wochen jeden Samstag. An jedem Mittwoch fuhr er für etwa drei bis vier Stunden mit einem Sprühgerät, das sich gleich einem Güllefass an den Aufsitzrasenmäher koppeln ließ, Brennnesseldung auf seinem Gelände aus.

Mähen nach der Mondphase

Der Mandant ertrug zu Beginn die Lärmentwicklung am Samstag; auf seine freundliche Nachfrage im Ostergottesdienst, warum es ausgerechnet Samstag sein müsse, hatte er zur Antwort erhalten, das hänge mit den Mondphasen zusammen. Weniger erträglich war dem Mandanten der Gestank des Brennnesselsuds, der einen Aufenthalt auf seiner Terrasse mehr oder weniger unmöglich machte. Auf Nachfrage war zu erfahren, dass ab Mitte Mai in Grenznähe nicht mehr gedüngt und auch nicht gemäht werde, um eine optimale Bewachsung durch eine Fettwiese sicherzustellen, die sicherlich herrlich anzusehen sei.

Schon damals fragte der Mandant besorgt an, ob er den Lärm und den Gestank denn wirklich erdulden müsse. Den Ratschlag, sich nachbarlich souverän zu verhalten, hat er anerkannt und zunächst auch befolgt. Die Souveränität geriet dann jedoch ins Wanken, als der Nachbar eine Einladung zum Gartenfest am 1. Mai mit der Begründung ausschlug, er habe an diesem Tag im Garten zu tun.

Die Tätigkeit bestand darin, in seinem Outdooroutfit und einer Spritze Marke Gloria die heranwachsenden Gräser mit einer Flüssigkeit zu bestäuben, die sich als so übelriechend herausstellte, dass der Brennnesseldung als olfaktorisches Elysium gelten durfte. Zusätzlich machte ein Gast des Mandanten, kurz bevor eine Flucht in die Innenräume angetreten werden musste, darauf aufmerksam, dass Löwenzahn und Wildblumen sich sicherlich auf den mit großem Aufwand gepflegten englischen Rasen des Mandanten vermehren würden – und dann sei alles zu spät.

Denn aus eigener Erfahrung wisse er genau, dass man dagegen gar nichts mehr machen könne. Die vom Gestank belastete Maifeier und die Frage der Vermehrungsfreude des nachbarlichen Löwenzahns machten ein zweites Mandantengespräch notwendig, in dem nur mit großer Mühe eine Verabredung dahingehend getroffen werden konnte, dass der Mandant von eigenhändigen tatsächlichen und wir von rechtlichen Gegenmaßnahmen vorläufig Abstand nähmen.

Das Kreischen der Motorsäge

Es wird Sie, geneigte Lesende, nicht wundern: Nicht ganz einen Monat später bat der Mandant dringend um einen persönlichen Termin vor Ort. Die Fahrt begann vielversprechend mit einem Stau auf der Autobahn, was den zeitlichen Raum dafür schuf, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sich eine Höllenfahrt durch die Untiefen des Nachbarschaftsrechts noch vermeiden lassen würde. Wenig überraschend fand sich die Ausfahrt schneller als der Ausweg. Beim Aussteigen war bereits das laute Kreischen einer Motorsäge vernehmlich. Der Mandant trat mit Ohrenschützern aus dem Haus und begrüßte uns mit den Worten: „So geht das seit Tagen!“

Unsicher blieb während des ganzen Besuches – nur zum Lunch pausierte die Motorsäge zwischen 12.30 Uhr und 14 Uhr – vonseiten des Mandanten, welche Abhilfe er sich genau wünschte. Als wir mit einem Anflug von Heldenmut an der Tür des Nachbarn klingelten, wurde uns nicht geöffnet. Der Mandant floh auf unseren Rat hin für vier Wochen auf sein Anwesen in Spanien. Seine Bitte, bis zu seiner Rückkehr eine Lösung gefunden zu haben, nahmen wir in versteinerter Sorge zusammen mit dem Schlüssel der inkriminierten Immobilie entgegen.

Zwei Monate Ruhe

Nach etwa drei Wochen verstummten die Geräusche auf dem Nachbargrundstück. Der Hausmeister rief uns an und teilte mit, dass er glaube, der Nachbar sei erkrankt. Jedenfalls würden derzeit keine Arbeiten mehr vorgenommen. Dies teilten wir dem Mandanten mit, der daraufhin seinen Aufenthalt in Spanien beendete und zurückkehrte. In der Tat war für fast zwei Monate Ruhe.

Dann erfolgte ein merkwürdiger Anruf des Mandanten. Er habe nach einem Hinweis seines Hausmeisters vor seiner Abreise einen anderen Anwalt mit der Durchsetzung seiner Interessen beauftragt; allerdings seien seine Schriftsätze schon grammatikalisch so ungenügend, dass er Zweifel habe. Wir sollten uns das anschauen.

Wir sagten zu und erhielten kurz darauf die Akte – der Mandant hatte den Nachbarn auf die Entfernung bzw. Rückversetzung eines 35 Meter langen und 250 Zentimeter hohen Holzstapels – lokal spricht man von einer „Holzbeuge“ – verklagt, der nach den Feststellungen eines eigens beauftragten Sachverständigen 119 Zentimeter zu nahe an der Grundstücksgrenze stand. Dies führe zu einer Teilbeschattung des Grundstückes und insbesondere der dort angrenzenden Rosenböschung, die dadurch „vermoose“. Das Wachstum und die Entwicklung der eingepflanzten roten Beetrose „Gruß an Bayern“, der Zwergrose „Alberich“ sowie der Edelrose „Ballade DDR“ seien dadurch stark beeinträchtigt.

Das zuständige Amtsgericht hatte nach einem ersten Verhandlungstermin – den Inhalt des Protokolls wollen wir übergehen – einen Sachverständigen beauftragt, der die Aussagen des Privatsachverständigen dem Grunde nach bestätigte, jedoch die Frage offenließ, ob eine Rückversetzung des Holzstapels auf die zulässige Abstandsfläche eine ausreichende Besonnung der Rosenböschung wiederherstellen würde.

Nachdem der Nachbar ein Privatgutachten vorlegte, dass dies verneinte, beschloss der zuständige Amtsrichter, ein entsprechendes Ergänzungsgutachten einzuholen. Der Mandant sah nun seinen sich anbahnenden Erfolg bedroht und hoffte mit bewährter Hilfe doch noch zu obsiegen.

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In der Sache war dies unspektakulär. Wir konnten beim anberaumten Ortstermin im November ohne Parteien den Amtsrichter davon überzeugen, dass letztlich die Abstandsfläche nicht nur die Besonnung des Grundstücks des Mandanten sichert, sondern bei nicht fest mit dem Erdboden verbundenen Anlagen auch eine Beeinträchtigung und Beschädigung durch Umsturz ausschließen soll. Die Ankündigung des in gelben Gummistiefeln neben uns im Matsch stehenden Amtsrichters, dass es mit dem Urteil noch etwas länger dauern könne, stellte sich als berechtigt heraus.

Als das Urteil im Februar des Folgejahres erging, war der Nachbar verstorben, bevor seinem Anwalt das Urteil zugestellt werden konnte. Der Nachbar hatte sich beim Arbeiten im Garten verletzt und dabei eine Sepsis zugezogen, die er nach langem Leiden nicht überlebte.

Der Mandant stand – so wurde berichtet – weinend am Grab und hatte einen Kranz roter Rosen gesandt, auf eine weiße Binde mit den Worten „In Verbundenheit Die Nachbarn“. Der Richter hatte den Streitwert in diesem Verfahren ohne die Parteien anzuhören auf „bis zu 0,99 EUR“ festgesetzt. Seine kurze Begründung: „Mit Rücksicht auf den Streitgegenstand gilt für den Streitwert: Dieser Mist ist keinen müden Euro wert.“ Rechtsmittel wurden nicht erhoben.