In der Zollernstraße, in der ich jetzt lebe, ist es so, wenn ich nur auf dem Sofa liege, ein Buch in der Hand, das Fenster im Rücken, ob es stark regnet oder jemand den Rollkoffer über das Pflaster zieht, weil die Reise zum nahen Bahnhof geht oder von da zurückkehrt: Die Geräusche sind gleich. Die Straße aus zwei geschlossenen Häuserzeilen ist ein hallendes Tor. Dann denke ich, der Regen ist die Reise des Himmels.

So stand ich in meinem Büro am Fenster und sah hinab, an einem Regentag, es ist Jahre her. Die Reise des Himmels. Das Fax der Polizei informierte über das Gesicht eines Mannes, der circa 35 war, dunkle Haare hatte und ein Gesicht mit schwarzen Augen. Er blickte auf dem Bild, wie alle auf Polizeifotos blicken, als gäbe es im Augenblick nichts zu sehen. Als hätte das Bild vergessen, dass es von Menschen angesehen wird, weil die Wiedererkennung immer öfter durch Maschinen geschieht. Wir passen uns ihren Augen an.

Dieser Mann auf dem Maschinenbild hatte mutmaßlich seinen Sohn angestiftet, einen Zwölfjährigen, die Mutter zu töten oder schwer zu verletzen. Und der Sohn, der Zwölfjährige, schüttete kochendes Wasser auf sie, in der Küche, ohne Ansatz. Die Frau überlebte und das Frauenhaus verbarg sie, da weitere Angriffe zu erwarten waren. Der Sohn war nicht strafmündig und die Anstiftung dem Vater nicht nachweisbar. Jeder dachte es zu wissen, aber Denken ist kein Beweis. Das Kind schwieg mit einer Zunge aus Stein, und so kam sein Vater davon.

Nur der Tod beruhigt die Täter

Hintergrund war eine drohende Scheidung. Die Frau hatte ein zweites Kind geboren, ein Mädchen, und letztlich hatte diese Geburt in ihr den Mut entfacht, aus den Zwängen und der Gewalt der Ehe zu entfliehen. Sie tat es nicht für sich, sie tat es für das Kind, sie legte das Kopftuch ab, verlangte die Scheidung und wurde dafür fast getötet. Mit dem Kind dann, nach dem Angriff, verbarg sie sich im Frauenhaus, und als der Vater die Herausgabe des Kindes verlangte, um es wahrscheinlich in die Türkei zu verbringen, wurde die Kanzlei eingeschaltet, der Frau zu helfen.

Nicht nur in diesem Fall begriff ich, in welcher Gefahr sich die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser befinden. Diese Frauen riskieren alles, stellen sich wie lebende Mauern zwischen ihre Anvertrauten und den Tätern draußen. Wir begreifen nicht, dass sie Hunderte Mal ihre eigene Gesundheit und ihr Leben riskieren, denn diese Konflikte sind ohne Grenzen, nicht nachvollziehbar brutal, und nur der Tod oder die Vernichtung der Partnerin beruhigt diese Täter.

Gerhard Zahner ist Strafverteidiger und Krimiautor. In „Der wahre Fall“ schreibt er regelmäßig über Begebenheiten aus dem Rechtsalltag.
Gerhard Zahner ist Strafverteidiger und Krimiautor. In „Der wahre Fall“ schreibt er regelmäßig über Begebenheiten aus dem Rechtsalltag. | Bild: Ulrich Fricker

Die Täter glauben sich berechtigt, lebenslang Frauen zu erniedrigen, und wenn ihnen diese Möglichkeit durch eine Trennung genommen wird, entlädt sich die entgangene Gewalt in einem Augenblick, als solle nichts verloren gehen. Innewohnend diesen Momenten der Gewalt ist ein Lauern auf das Ganze, das Leben der Moderne, denn die Flucht und der Neuanfang der Erniedrigten repräsentieren im positiven Sinne die Freiheit.

Freiheit ist messbar an der Zahl, wie viele Menschen, aus allen Gründen, in einer Gesellschaft neu anfangen. Dies ist ein kleines Wort, für manche zu schwer und zu komplex. Jeder und jede kann neu anfangen, wir unterschätzen, wie kostbar es ist.

Das Konstanzer Familiengericht ist erfahren und letztlich von Drohungen nicht zu beeindrucken. Vor dem Termin wurde der Mann auf dem Gerichtsflur von Justizbeamten durchsucht, die ihm klarmachten, dass sie seine Grenzen sind und sie diese Grenzen durchsetzen werden. Auch diese Beamten und Beamtinnen riskieren jeden Tag ihre Gesundheit, niemand außerhalb der Gerichte bemerkt es und dankt. Der Faktor dann, dass diese Gewalt-Männer dort vor Richterinnen stehen, lässt ihre Allmacht und Überheblichkeit sofort versiegen.

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Er kaute trocken, blickte unruhig und fluchte innerlich. Allein, von einer Frau befragt zu werden über die Taten und das Verhältnis zur eigenen Frau und das Kind, ließ ihn passiv werden, weil Sprache, Reflexion, Argumente nie Teil der Ehe und Erziehung waren. Es ist der Schatten der Freiheit, der falsche Lichter vor Gericht ausdunkelt.

Auf dem Stuhl dort wirkte er klein, rutschte hin und her, wie ein Schulkind, das Angst hat dranzukommen. Das Nichtredenkönnen, das Nichtsagenkönnen, das Nichtzuhörenkönnen machte ihn in meinen Augen nur gefährlicher und lächerlich zugleich.

Die Verhandlung dauerte kurz. Er warf hin, ließ seinen Antrag fallen wie einen Ball im Spiel, wenn man keine Lust mehr hat, als hätten sich alle gegen ihn verschworen, er sprang von glühenden Kohlen und stampfte hinaus. Damals im alten Familiengericht waren die Treppen sehr laut, und wenn jemand wütend hinablief, erzählte der Zorn der Schritte vom inneren Herzschlag. Hier trommelte ein Verlierer gegen seinen Verlust in die Welt.

Neues Leben unter dem Schutz der Polizei

Unsere Mandantin wurde von der Polizei in ein neues Leben begleitet, mit ihrer Tochter, anonym, niemand wusste, auch ich nicht, wo, in welcher Stadt, der Neuanfang begann. Sohn und Vater kehrten später in die Türkei zurück, nachdem sie sie nicht gefunden hatten. Dieser Verwandlung zuzusehen, von Mutter und Kind in eine neue Identität, wirkte wie ein Schlag im Dunkeln.

Sie hatte ihr soziales Leben auszulöschen. Angefangen beim Handy. Niemals die Angerufene sein, beim Anrufen selbst sich wegdrücken, sodass der Anruf nicht zurückverfolgt werden kann, wie eine Verfolgte jeden Gedanken immer umdrehen auf ihn. Immer mit ihm denken. Keine Mail an niemand. Kein Blick in die sozialen Medien, ein falscher Klick verrät den Aufenthaltsort.

Alles ist tot. Er lauert. Glück hatte sie, dass das Kind noch klein war und keine Fragen stellte und nicht Freunde suchte und Verwandte. Briefe an sie, auch die der Kanzlei, gingen über die Polizei, die alles tat, die Spuren zu verwischen. (Danke, Herr P.)

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Das Scheidungsurteil wurde über den Benediktinerplatz weitergeleitet. Ihr Leben, wie der Sand am Meeresufer, die Welle, die darüber fließt, erneuert es, glättet die Vergangenheit. Ein neuer Name wird eingeschrieben, für die Seele, die sich tief bückt, und die nächste Welle rollt heran und es wiederholt sich. Ohne das Kind wäre sie diese Flucht nicht gegangen, sagte sie mir. Keine Besuche in der Türkei. Keine Kontakte, allen Freunden in der Luft ein Gruß.

Jemand Neues kennenlernen, immer in der Versuchung, die Geschichte zu erzählen, und damit verraten zu werden, es ist wie ein Gift, das langsam wirkt. Oder ein Schmetterling, der seine Flügel zu hassen beginnt. Man fürchtet den, der einem zulächelt. Seine Geschichte nicht mehr erzählen dürfen, ist ein Preis, den Angeklagte vor Gericht nicht bezahlen müssen. Das Unendliche ist grausam. Wie das Schweigen. Unendlich ist, was wir nicht verstehen, dazu gehört die Grausamkeit.

Wenn das Weinen zu einer Sprache wird

In Konstanz stand sie mit ihrer Tochter im Arm im Zimmer oft allein, wie ein Gemälde, vom Spiegel angesehen, hörte aus dem Fenster des Frauenhauses die Welt, das waren Vögel, die pfeifen, oder ein Auto, das anhält, und wenn wir sprachen, am Telefon meist, dann weinte sie, so leise wie ein Mensch weinen kann, der Angst hat, dass man ihn hört. Wenn das Weinen zu einer Sprache wird, versteht man die Arbeit in den Frauenhäusern.

Ich erinnere mich an den Regen vor der Auslage des Optikers, dort stand er, schaute zu unserem Fenster, schaute hinauf, und eine Angestellte verglich sein Gesicht mit dem des gefaxten Polizeifotos. Dieser Mann sah eindeutig zu uns hinauf, er war es nicht.

Angst ist wie ein Gefäß, das sich niemals leert, das wir nie benutzen und immer vor uns hertragen, das wir beim Schlafen neben uns ablegen und es aufnehmen beim Erwachen, als hätte man ein Leben in der Hand, was keinen Namen hat, man serviert es sich wie ein Kellner und bezahlt einen hohen Preis.