Man stelle sich vor, die Einkommenssteuer in Bayern wäre doppelt so hoch wie in Berlin, die Umsatzsteuer doppelt so hoch wie vielleicht in Bremen. Würde sich die Allgemeinheit das bieten lassen? Die Bayern sicher nicht, weil es ihnen wehtut, und die anderen auch nicht, denn bei Steuern sind wir manchmal sogar solidarisch. Aber es geht in dieser Geschichte nicht um Steuern, es geht um Freiheit. Und die ist weit weniger wert und undurchsichtig wie eine Milchglasscheibe.
Ein BGH-Richter gab ein Seminar über Revisionsrecht. 25 Anwälte füllten eine kleine Wabe im Kongresszentrum am Stadtrand einer deutschen Großstadt und starrten mit Bienenaugen abwechselnd auf den Dozenten und die Leinwand. „Nur 20 Anwälte in Deutschland beherrschen das Revisionsrecht“, so begann der Dozent das Seminar. Die Zuhörer nickten und lächelten, obwohl mindestens vier, außer mir, damit nicht gemeint sein konnten. Der Dozent war klein und schlank, hatte eine braune Tasche, und redete viel über andere, das heißt in Anekdoten. Er war der Typ des Juristen, der seine Probleme in der Robe löst, aber eine Geschichte ist mir in Erinnerung geblieben.
Bei Rosenheim vor der Grenze liegen zwei Autobahnhöfe. Und keiner weiß, warum Drogenkuriere, bevor sie die Grenze überwinden, regelmäßig dort halten: Die Polizei jedenfalls fischt auf beiden Seiten der Autobahn regelmäßig die Verdächtigen heraus. Eventuell holen die Kuriere an diesen Raststätten innerlich Schwung, oder sie versuchen, das Blut abzusenken, ein extra Verkehrsschild für Kuriere wurde nie gesehen. Auch unser Beispielmann hatte also das Red Bull auf den Lippen und wartete auf der Raststätte bei Rosenheim, sein Telefon am Ohr. Doch dann: Poch, poch an die Scheibe. „Fahrzeugkontrolle!“
Für den Laien nicht nachvollziehbar
Nun wurde also wieder mal so ein Kurier in Rosenheim mit vollem Kofferraum erwischt und erhielt in Bayern eine Strafe von vier Jahren. Das ist kein besonderer Fall, wäre da nicht eine Fortsetzung, die für den Laien nicht nachvollziehbar ist, besonders für den Verurteilten. Nach der Verurteilung des Kuriers wurde nämlich der Haupttäter ermittelt, er wohnte und agierte in Berlin. Dieser hatte die Drogen gekauft, ins Auto verpackt, den Kurier angeworben und den Transport organisiert, den Weiterverkauf auch. Kurz: der Typ des Managers. Dieser Haupttäter wurde also dort in Berlin für die Tat angeklagt. Seine Strafe: zwei Jahre Gefängnis – gerade mal die Hälfte!
Wir wissen nicht, was der zu vier Jahren verurteile Gehilfe exakt dachte, als er dies erfuhr. Wahrscheinlich fühlte er sich von der Gerechtigkeit wie mit einer Eisenstange durch seine Zelle gejagt und fragte die Anwälte um Rat. Ihre Antwort wahrscheinlich: „Das ist ganz normal, das liegt an der Stadt, am Bundesland, an den Richtern. In Bayern wird traditionell in der Regel viel härter bestraft als in Berlin. Richter haben einen Strafrahmen und darin das Ermessen.“
„Aber ich war der Gehilfe. Der hat alles gemacht. Der hat das organisiert und mich überredet!“
„Der stand in Berlin vor Gericht.“

Anwalt sein wird dann sehr schwierig, wenn man das System nicht mehr erklären kann, weil es auf Tradition beruht. Gerechtigkeit ist für jeden Bürger die Verbindung zum Staat. Der Philosoph Platon sagt, Gerechtigkeit sei zudem der Stoff, der für Ordnung in der Seele sorgt. Und eine Gerechtigkeit ohne Gleichheit ist wie eine Maske, die auf kein Gesicht passt. Auch das wird unser Gehilfe nicht begreifen.
In Berlin und Bayern werden die Voraussetzungen für Raub und Diebstahl gleich geprüft, aber nicht immer gleich subsumiert. Gewahrsamsbruch ist Gewahrsamsbruch. Ein minder schwerer Fall ist ein minder schwerer Fall. So sollte es sein. Die Gleichheit ist aber der zerbrochene Spiegel mit unterschiedlichen Scherben, wenn es darum geht, wie und in welcher Höhe in der Republik die Strafen verhängt werden. Die Unterschiede im Strafmaß für vergleichbare Fälle reißen zwischen den Bundesländern Vollstreckungsgräben auf, die für die Vorstellung von Freiheit unüberwindbar sind. Was ich hier berichte, ist rein subjektiv. Die Essenz aus hunderten Gesprächen.
Ein Drittel der Haft gespart
Da ist Andre W., der Kollege, den ich schätze. Betritt er einen Gerichtssaal, so mögen ihn alle. Er hat die Figur eines Radrennfahrers, seine Rhetorik ist Spätlese, er spricht zudem albanisch, und – wen wundert es? – er residiert mit seiner Kanzlei in einem ehemaligen Kino. Die folgende Geschichte erzählte er mir dreimal.
Im Hamburger Hafen schlummerten auf dem Boden von Bananenkisten wieder mal kleine weiße Säckchen, ein Spediteur brachte sie zu einem Supermarkt in Bayern. Da zwei Tatorte zwei Staatsanwaltschaften beschäftigen, könnten sowohl Bayern (“in Weiden musst du leiden“) als auch Hamburg für die Anklage zuständig sein. Andre W. verfasste Obstkisten von Schriftsätzen, um das Verfahren nicht in Bayern, sondern in Hamburg zu eröffnen. Es gelang ihm. Die Tat wurde in Hamburg angeklagt, und der Anwalt ersparte damit seinem Mandanten ein Drittel der Haft. So sein Ergebnis.
Ein anderer Kollege aus dem Badischen fuhr wieder mal nach Augsburg, um zu verteidigen (Gewürzmischungen aus dem Internet, die unter das Betäubungsrecht fallen und aus Holland abgeschickt, was der Mandant nicht wusste). In Augsburg tragen Richterinnen und Richter nach meiner Wertung die Kaiserrobe der Höchststrafe. Er ahnte, was kommt. Weil eine vom Schöffengericht in Aussicht gestellte exorbitant hohe Strafe für ein umfassendes Geständnis nicht akzeptiert wurde, verwies man die Sache ans Landgericht, dort könnte die Strafe noch höher ausfallen. „Minderschwerer Fall nur bei Geständnis!“ – „Es gibt andere Umstände.“ – „Dann verweisen wir!“
Vor dem Landgericht einer Stadt im Norden, im Rahmen einer Verständigung, sagte die Richterin nach ihrem milden Strafvorschlag auf das dankende Staunen der Anwälte: „Wir sind nicht in Kleve.“ Gemeint war das Gericht an der holländischen Grenze. Markus R., ein wunderbarer Strafverteidiger und Maler, berichtete mir, dass Anwälte alles versuchen, ihre Fälle in Duisburg zur Anklage zu bringen und nie in Kleve. Nie in Kleve. Nie in Kleve. Paragraf 359 des Strafgesetzbuches. Das resümierte eine junge Anwältin.
Besser nach Berlin-Tegel
Gerichte sind unabhängig, ihre Strafen im Rahmen des Strafgesetzbuches festzusetzen, aber die Gleichheit wird offensichtlich mit Ungleichheit berührt, wenn für vergleichbare Delikte die Strafen um ein Drittel oder die Hälfte in der Strafhöhe differieren. Ein Polizist erklärte mir, dass versucht wurde, wenn möglich auf der Zuständigkeitsgrenze Fälle in Ravensburg und nicht in Konstanz zur Anklage zu bringen. In Ravensburg seien die Strafen höher. Das war vor Jahren, heute ist es angeglichen.
Unlängst stand die Familie einer Drogeriekette vor Gericht, und das Urteil schickte die Kinder des Gründers ins Gefängnis. Zeitungen berichteten, dass diese Verurteilten als Wohnsitz Berlin angaben und den Wohnsitz in Baden-Württemberg aufgegeben hatten. Ob dies stimmt, wissen wir nicht. Die Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel wird im Allgemeinen Stammheim vorgezogen: Ein Gefangener erhält in der Bundeshauptstadt leichter Freigang, die Chancen für Halbstrafen sollen besser stehen.
In meiner Jugend, um der Bundeswehr zu entgehen, sind viele nach Berlin umgezogen. Es entstanden badische und schwäbische Viertel aus jungen Männern, die sich langweilten. Heute kann man Haftstrafen leichter machen, Voraussetzung dafür ist, man hat das Geld für den Umzug und den Neustart, kann eine Arbeit nachweisen, eine Wohnung und hat das Talent, die Anonymität einer Kulturhauptstadt nicht misszuverstehen.
Auf Nimmerwiedersehen in Konstanz
In Konstanz wurde eine Vereinbarung in einem Drogenprozess geschlossen. Der Kollege aus Nordrhein-Westfalen bat aufzunehmen, dass die Staatsanwaltschaft einer Abschiebung bei Halbstrafe seines ausländischen Mandanten nicht widersprechen werde. Ausländer können nach der Strafprozessordnung zur Hälfte der Strafe in ihr Heimatland abgeschoben werden, dürfen dann nicht mehr einreisen, sonst müssen sie wieder ins Gefängnis. Das wird in Konstanz aus guten Gründen so gehandhabt.
Der Staat spart Geld, und es ist ein Nimmerwiedersehen. In manchen Rechtsbezirken Deutschlands aber wird die Halbstrafenabschiebung nicht angewendet, weil es die Abschreckung verbrauchen soll. Dort sitzt der Ausländer statt drei, beispielsweise sechs Jahre auf Endstrafe und versucht anschließend, nach drei bis fünf Jahren wieder einzureisen, was ihm in der Regel auch gelingt. Man muss es nicht werten. Es ist eine vollkommen andere Biografie.
Nicht jede Rechtsbewegung muss in der Tiefe verfassungsrechtlich durchdacht sein, manchmal genügt der eine Satz, es wurde im Grunde nicht verstanden. In fast allen Fällen, in denen das Strafmaß in der Revision angegriffen wird, hält der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil. Das ist paradoxerweise richtig, denn Richter aller Gerichte sind unabhängig. Aber Haftstrafen sind kein Schlager. Das ist Lebenszeit. Strafen haben nur dann Sinn, wenn der Inhaftierte sie im Grunde versteht. In einer Zelle sitzen und wissen, dass der Haupttäter milder bestraft ist, weil das Gericht einer anderen Stadt geurteilt hat, wird die Mauern seiner Zeit vergiften.
Dies zum Schluss: Von Hof zog ein alleinerziehender Vater nach Konstanz und war des Ladendiebstahls angeklagt. Er stand auf Bewährung. Dreimal in drei Jahren wurde er in Hof wegen kleiner Diebstähle verurteilt. Zuletzt hatte er dort ein Schokoladenei für 4,56 Euro an Ostern für seinen Sohn gestohlen. In Konstanz war es wieder ein niederer Betrag. Konstanz hat keine Haftstrafe verhängt, trotz des Bewährungsbruches. Ein Schokoladenei für 4,56 ist keine acht Monate wert. Der Mann war nie wieder in meiner Kanzlei. Er hat den Sohn gut erzogen. Was niemand begreift, im Land der Polemik: Milde heilt so oft.