Der erste Schreck kam meist per E-Mail. Mitten in die Weihnachtsstimmung hinein teilten bundesweit führende Energiediscounter wie Stromio, Grünwelt oder Gas.de ihren Kunden Ende 2021 mit, deren Belieferung mit Energie einzustellen. Aufgrund explodierender Preise im Großhandel waren die preisaggressiven Anbieter in Schieflage geraten und setzten nun ihre Kunden vor die Tür.
Stromio-Schieflage treibt Kunden zu Stadtwerken
Was sich dramatisch anhört ist zunächst für die Haushalte kein größeres Problem. In solchen Fällen werden sie automatisch in den sogenannten Grundversorgungstarif ihres lokalen Energieanbieters eingebucht. So soll sichergestellt werden, dass selbst bei Firmenpleiten keine Stube kalt und das Wasser immer warm ist.
Dass es der Regio-Versorger oder das lokale Stadtwerk ist, das die Belieferung der Kunden jetzt übernimmt, merken diese oft erst, wenn die erste Rechnung kommt. Die allerdings fällt für die Betroffenen derzeit gesalzen aus.

Wer nicht wechselt verliert – 3025 Euro pro Jahr für Strom statt gut 1400 bei den Stadtwerken Konstanz
Nach SÜDKURIER-Recherchen haben eine ganze Reihe von regionalen Energieversorgern und Stadtwerken in Südbaden ihre Tarife für Neukunden in der Grund- oder Ersatzversorgung massiv erhöht. Von den ausgewerteten Anbietern langen die Stadtwerke Konstanz, die rund 55.000 Haushalte beliefern, am meisten zu. Wer seit Januar zwangsweise in den Grundversorgungstarif der Konstanzer eingebucht wurde, zahlt nach Unternehmensangaben je Kilowattstunde Gas glatt doppelt so viel wie Bestandskunden. Beim Strom steigt der Preis je Einheit sogar noch stärker – auf 72,6 Cent im Tarif See-Energie Ökostrom-Basis-Zwei.
Würde ein Standard-Haushalt mit einem Energieverbrauch von 4000 Kilowattstunden Strom und 12.000 Kilowattstunden Gas jährlich diese Tarife nicht zeitnah wechseln, sondern ein Jahr lang weiterbeziehen, entstünden erhebliche Mehrkosten. Beim Strom würden – inklusive Grundpreis – rund 3025 Euro pro Jahr fällig, statt 1436 Euro. Beim Gas rund 2130 Euro statt gut 1100 Euro.
Machen Stadtwerke Kasse?
Ähnlich sieht es bei der Stadtwerke-Gruppe Thüga aus, die etwa im Hegau und in Oberschwaben Grundversorger ist. Auch hier haben sich die Preise je Kilowattstunde für Neukunden in den Grundversorgungstarifen Classic Strom und Classic Gas teils mehr als verdoppelt. Nur wenig kundenfreundlicher sieht es bei der EnBW-Tochter Energiedienst Holding (ED) aus, die am Hochrhein vielerorten die Strom-Grundversorgung übernimmt. Die Kosten je Einheit steigen hier um rund 80 Prozent.

Keine gespaltenen Tarife bei EnBW und Stadtwerken am See
Die in Freiburg ansässige Badenova verzichtet darauf, Neukunden beim Strom stärker in die Tasche zu greifen, erhöht dafür aber die Preise für die Gas-Grundversorgung – um rund zehn Prozent, wie es von Badenova heißt.
Von den untersuchten sechs größeren Energieanbietern in der Region behandeln einzig die EnBW sowie das in Friedrichshafen ansässige Stadtwerk am See alle Energiekunden gleich. „Bei der EnBW gelten in der Grundversorgung weiterhin einheitliche Preise für Neu- und Bestandskunden“, heißt es von dem Karlsruher Staatskonzern. Ähnlich äußert sich ein Sprecher des Friedrichshafener Stadtwerks.
Das Phänomen, dass lokale Energieanbieter Neukunden teils extrem hohe Grundversorgungtarife in Rechnung stellen, zeigt sich bundesweit. Schätzungen zufolge fahren etwa 260 Grundversorger im ganzen Land eine entsprechende Preispolitik.
In Südbaden sind dadurch nach SÜDKURIER-Recherchen mehrere Tausend, wahrscheinlich sogar eine deutlich fünfstellige Zahl an Haushalten betroffen – Tendenz steigend. Bei der Freiburger Badenova heißt es, immer mehr Kunden der strauchelnden Energiediscounter müssten in die eigenen Grundversorgungsangebote eingebucht werden.

Verbraucherschützer und Regulierungsbehörden sehen in dem Preisgebaren der Versorger ein Problem. „Die Preise für Neukunden in der Grundversorgung sind teilweise nicht nachvollziehbar“, sagt Matthias Bauer, Energieexperte bei der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg (VZBW). Da werde oft „richtig Kasse gemacht“. Uwe Leprich, Energiewirtschaftler an der HTW-Saar hält die von den Stadtwerken ausgewiesenen Tarife für „nicht kostenbasierte Prohibitivpreise“. Auf deutsch: Sie sollen Neukunden nicht binden, sondern abschrecken.
Verivox und Check24 bedingt aussagekräftig
Halten Energieversorger Kunden also auf Abstand, statt sie anzulocken? Tatsächlich hat sich der Energiemarkt komplett gedreht. Während sich seit Beginn der Liberalisierung um das Jahr 2000 sowohl bei Strom als auch bei Gas ein extremer Wettbewerb ausgebildet hat und sich die Energievertriebe mit Günstig-Tarifen überschlugen, sieht es seit Kurzem anders aus. Viele Unternehmen schließen ihre Energietarife für Neukunden. Vergleichsportale wie Verivox oder check24 sind nur noch eingeschränkt nutzbar.
Der in Folge der Corona-Krise extreme Preisanstieg von Gas und Strom im Großhandel und an Spotmärkten hat dabei insbesondere das Geschäftsmodell der preisaggressiven Energiediscounter über den Haufen geworfen. Diese verdienten bislang gut damit, Energie kurzfristig einzukaufen und dabei von schwankenden Börsenpreisen zu profitieren.

Die drastischen Energiepreis-Steigerungen der letzten Monate, in deren Folge Gas beispielsweise bis zu fünf Mal teuer wurde, hat diese Anbieter kalt erwischt – bundesweit gingen rund 30 insolvent. Andere, darunter Stromio, stellten kurzerhand die Belieferung der Kunden ein. Denn die stark gestiegenen Einkaufspreise können sie nicht unmittelbar auf ihre Kunden überwälzen. „Mit jeder Kilowattstunde gelieferter Energie verlieren die Discounter Geld“, sagt Experte Leprich.
Warnung vom Kartellamt-Chef Andreas Mundt
Bei den Stadtwerken und Regionalversorgern sieht die Lage anders aus. Generell kaufen sie Energie langfristig und zu festen Preisen ein. Das macht diese Anbieter resistent gegenüber kurzfristig eintretenden Preissteigerungen im Beschaffungsmarkt.
Bei Nachfrage-Schocks wie aktuell, die ihnen in kurzer Zeit eine hohe Zahl an Kunden zutreiben, kommen indes auch die Stadtwerke ins Straucheln. Dann nämlich müssen auch Sie kurzfristig große Mengen teure Energie nachkaufen. Und genau das passiert aktuell. Roland Weis, Kommunikationschef bei Badenova bezeichnet es denn auch als „Notwehr“, dass viele Grundversorger die Tarife nun nach oben anpassten.
In seltener Einigkeit stützen Verbände diese Argumentation. „Dass Anbieter in Niedrigpreiszeiten Reibach machen und sich bei steigenden Preisen nicht mehr um ihre Kunden kümmern, sei nicht hinnehmbar, heißt es vom Branchenverband BdEW. Und der Kommunalverband VKU ergänzt, die jetzt umstrittenen teuren Grundversorgungstarife seien nach „objektiven Kriterien kalkuliert und nicht willkürlich“.
Mundt spricht von „Mondpreisen“ mancher Anbieter
Wirklich? Es gibt Zweifel. Dass viele Grundversorger für ihre Neukunden andere, höhere Tarife, als für ihre Bestandskunden nähmen, „sehe ich kritisch“, sagte der Präsident des Bundeskartellamts, Andreas Mundt, dem SÜDKURIER. Es sei kartellrechtlich durchaus relevant, „wenn jemand, der auf die Grundversorgung angewiesen ist – und sei dies auch nur für einen Übergangszeitraum – missbräuchlich überhöhte Mondpreise zahlen muss“, sagte Mundt. Die Versorger sollten sich bewusst sein, dass sie die Höhe der jetzt aufgerufenen Tarife für Neukunden im Einzelnen auch rechtfertigen können müssen.“