Jörg-Peter Rau
Herr Landrat wie viele Flüchtlinge sind 2015 bisher in den Landkreis Konstanz gekommen?

Zum 31. August hatten wir 1721 Asylsuchende im Landkreis Konstanz. Die Monate September bis Dezember werden sich nach den Aussagen der Landesregierung dramatisch verändern. Wir hatten bisher Zuweisungen von rund 180 Personen im Monat, diese Zahl wird auf rund 525 pro Monat steigen.

Das heißt, es kommen bis Jahresende fast so viele Flüchtlinge dazu, wie bisher hier schon leben?

So ist es. Wir werden bis Ende des Jahres rund 3000 Asylsuchende in Gemeinschaftsunterkünften – für sie ist der Landkreis zuständig – unterbringen müssen. Und dann dreht sich die Welt weiter.

Sind mit den 1721 Asylsuchenden, von denen Sie eben gesprochen haben, alle vorhandenen Plätze belegt?

Wir haben im Augenblick noch gewisse Kapazitäten, weil wir alleine in diesem Jahr bisher 1442 neue Plätze geschaffen beziehungsweise gesichert. Dazu gehören auch die drei Sporthallen des Kreises in Konstanz, Radolfzell und Singen; dort sind allein 570 Personen untergebracht. Aber machen wir uns nichts vor: Das darf kein Dauerzustand sein. Zugleich habe ich keine Ahnung, wie ich in diesem Umfang an anderen Orten Unterbringungsmöglichkeiten schaffen soll. Schon für das Ziel 3000 bis Jahresende fehlen im Augenblick 600 Plätze.

Wo wollen Sie diese bereitstellen?

Wir prüfen alle Möglichkeiten: mit Zelten, mit Containern, mit Leichtbauhallen und natürlich auch in bestehenden Liegenschaften. Wir suchen verzweifelt alle Möglichkeiten.

Wie schätzen Sie das gesellschaftliche Klima in Ihrem Landkreis beim Thema Flüchtlinge ein?

Mir begegnet, dass Menschen sagen: Das Leid der Flüchtlinge müssen wir lindern, aber wenn die Menschen dann nicht nur die Fernsehbilder sehen, sondern vor Ort mit der Situation konfrontiert sind, ist die Wahrnehmung eine andere. Mir sagen viele Leute: Man darf es ja nicht laut sagen, aber…

Immer wieder ist auch die Rede von Gewalt und Kriminalität in den Unterkünften und um diese herum. Welche Erkenntnisse liegen Ihnen dazu vor?

Wir machen regelmäßige Kontrollen, soweit das mit dem inzwischen völlig überlasteten Personal möglich ist. Eine solche Kontrolle fand gestern Nacht statt, die war nicht problematisch. Allerdings haben wir in großen Einrichtungen durchaus Probleme. Wir hatten am Wochenende zum Beispiel drei mutwillig ausgelöste Brandalarme in der Zeppelin-Turnhalle. Wir haben mit der Nachbarschaft auch großes Erklärungsbedürfnis. Ich danke den Nachbarn für ihre große Toleranz – wir haben in den Unterkünften eben Menschen untergebracht, die eine andere gesellschaftliche Situation gewohnt sind. Aber ich will nichts verschweigen. Die Klagen häufen sich, ich bekomme täglich Post.

Wie viel musste der Landkreis dieses Jahr schon ausgeben für die Unterbringung von Flüchtlingen?

Allein für die Unterbringung hat der Landkreis bis September rund 2,8 Millionen Euro ausgegeben. Dazu kommen rund 1,2 Millionen Euro für den Kauf von Grundstücken und Immobilien.

Unter der Hand wird gemunkelt, dass der Landkreis für das nächste Jahr mit 20 Millionen Euro Kosten rechnet.

Ich kenne diese Zahl. Sie bezieht sich auf die Größenordnung, in der wir Immobilien kaufen müssen. Die gesamten Kosten im Zusammenhang mit den Flüchtlingen werden sich im nächsten Jahr bei 50 bis 60 Millionen Euro bewegen. Einen Teil davon bekommen wir erstattet, demnächst rund 700 Euro pro Monat und Flüchtling. Hinzu kommt eine bescheidene Wohnbauförderung des Landes. Doch beides deckt die Kosten bei weitem nicht. Was Bund/Land nicht bezahlen, muss der Kreis aufbringen – oder genauer gesagt, die Kommunen über die Kreisumlage. In den Städten und Gemeinden wird dieses Geld dann fehlen.

Gestern wurde bekannt, dass Baden-Württemberg den Königsteiner Schlüssel nicht schafft und weniger Flüchtlinge aufnimmt, als es das Land müsste. Erfüllt der Kreis Konstanz denn seine Quote innerhalb des Landes?

Noch erfüllen wir diese Quote zu hundert Prozent. Aber wir haben keine Möglichkeit, auf Überlastung hinzuweisen. Das Regierungspräsidium Karlsruhe weist uns darauf hin, dass Flüchtlinge per Bus auf dem Weg in den Landkreis sind. Oft ist der Vorlauf nur wenige Stunden.
Ob wir Kapazitäten haben, fragt keiner mehr. Die Menschen kommen, und wir sind auf uns selbst gestellt.

Sind nach Ihrem Empfinden die Flüchtlinge sinnvoll über im Kreis verteilt und welche Signale bekommen Sie dazu aus den Rathäusern und Gemeinderäten?

Die Kommunen helfen aktiv mit. Ich bekomme Angebote für Unterkünfte und Grundstücke. Die Veranstaltungen, die wir machen, sind wahnsinnig gut besucht. Ich bekomme aber schon mit, dass wir nicht willkommen sind mit unseren Unterkünften.

Warum nicht?

Die Menschen haben Sorge, dass sich das dörfliche Leben oder ihr Stadtteil verändert. Wir können bisher sagen, dass die Reibungspunkte bei uns im Landkreis gottseidank noch nicht so deutlich zutage getreten sind wie in anderen.

In dieser Woche ist ein Brandanschlag auf eine geplante Unterkunft in Oberteuringen im Bodenseekreis verübt worden. Wie stellen Sie die Sicherheit der Bewohner sicher, aber auch die Sicherheit im Umfeld der Unterkünfte?

Die Sicherheit zu garantieren, ist eine der vornehmsten Aufgaben des Staates. Ich bekomme jetzt allerdings, auch von staatlichen Stellen, gesagt, dass man mit der Aufgabe überfordert sei, in und um die Gemeinschaftsunterkünfte Sicherheit zu schaffen. Ich habe deswegen soeben Aufträge an Security-Firmen erteilt, die in und um die Gemeinschaftsunterkünfte Streifendienste bei Nacht und Wochenende machen. Das kostet allein 15.000 Euro. Plus Mehrwertsteuer. Pro Woche.

Fassen wir mal zusammen: Es gibt kaum Flächen für die schnelle Bebauung. Es gibt kaum Bestandsgebäude, die sich rasch umnutzen lassen. Es gibt zunehmenden Widerstand in den Kommunen und in den Nachbarschaften. Und es gibt Probleme mit der Sicherheit. Wo soll das hinführen?

Auch wir sind im Krisenmodus – so hat es auch der Ministerpräsident gesagt. Noch ist die Lage beherrschbar. Aber nur, was die Unterkunft betrifft. Aber wenn es so weitergeht im Januar, Februar und weiter im nächsten Jahr, dann schaffen wir das auch mit den Unterkünften nicht mehr. Die Menschen, die zu uns kommen, haben ganz andere Lebenshintergründe als es die Verhältnisse hier bei uns sind. Integration kann man nicht im Krisenmodus leisten. Dafür braucht man Zeit und Strukturen. Beides ist bei den aktuellen Zahlen nicht mehr machbar. Also geht es gar nicht anders, als eine Obergrenze für die Zuweisung von Flüchtlingen festzulegen. Die muss für ganz Deutschland gelten und sich dann auch in den Landkreisen bemerkbar machen. Sonst schaffen wir das nicht!

Wie soll das praktisch funktionieren? Wir können ja nicht festlegen, wo auf der Welt es welche Krisenherde gibt und wie viele Menschen aus diesen Gebieten flüchten dürfen?

Nein, das können wir nicht. Ganz im Gegenteil. Die Situation in Syrien spitzt sich zu, in Afghanistan ist die Stadt Kundus gefallen. Das alles wird wohl dazu führen, dass noch mehr Flüchtlinge zu uns kommen.
Auch die Entscheidung direkt an den EU-Außengrenzen an den derzeit diskutierten Hot-Spots hilft bei jetziger Rechtslage nicht weiter. Helfen würde es, wenn es ein europäisches Recht gibt zur Asylgewährung, mit einen zentralen Kern: Wenn ein EU-Land einen Staat als sicheres Herkunftsland einstuft, gilt das für alle EU-Staaten. Flüchtlinge aus diesen Ländern würden dann direkt an der EU-Außengrenze wieder zurückgeschickt.

Wie viele Flüchtlinge aus den betroffenen Ländern leben im Kreis Konstanz?

Es sind ungefähr die Hälfte der Flüchtlinge, die heute bei uns ankommen.

Werden sie abgeschoben?

Es würde uns sehr helfen, wenn das so wäre. Wir würden große Kapazitäten freibekommen für Asylbewerber mit Aussicht auf einen Aufenthalt bei uns. Im Ergebnis sind Abschiebungen nicht erfolgreich. Das liegt auch daran, dass in Baden-Württemberg inzwischen die Betroffenen 48 Stunden vorher darüber informiert werden. Auch das muss sich ändern. Im Ergebnis trifft die Polizei sie dann nicht an, das ist die Realität. Die grün-rote Landesregierung hat sich mit dem Thema Abschiebung bisher sehr, sehr schwer getan. Das muss sich ändern.

Die Zahlen sagen auch, dass die andere Hälfte eine Bleibeperspektive hat.

So ist es. Und wer bleiben darf, hat das Recht, die eigene Kernfamilie nachzuholen, also Geschwister und Eltern. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürfen mindestens ein Elternteil nach Deutschland holen, wenn sie dauerhaft anerkannt sind.

Was heißt das für den künftigen Bedarf an Anschlussunterbringungen?

Einfache Rechnung: Von den 3000 Menschen, die am Jahresende da sind, bekommen zum Beispiel 1500 Asylrecht. Die allermeisten von ihnen werden Männer sein, die im Zweifel die Familie nachholen. Wir hätten dann also 1500 Asylberechtigte und nochmals zwei- bis dreimal so viele Familienangehörige. Wenn man nur dieses eine Jahr nimmt, kommt man mit dem Familiennnachzug auf einen Bedarf von 4000 bis 5000 Plätzen in der Anschlussunterbringung. Für ein einziges Jahr. Rechnen Sie das mal in Geld, in benötigen Flächen. Und wir können auch nicht die Natur zubetonieren.

Der Konstanzer Oberbürgermeister hat vergangene Woche für Aufsehen gesorgt, als er sagte: Wir können entweder nach Stuttgart gehen und die weiße Flagge hissen, oder wir roden ein Stück Stadtwald und ziehen dort ein ganz neues Stadtviertel hoch. Ist das hilfreich, oder macht das am Ende nur neue Fronten auf?

Uli Burchardt hat Recht. Nur: Nach den Zahlen, die ich Ihnen genannt habe, muss er nicht einmal ein Waldstück roden, sondern jedes Jahr eines. Und das geht nicht, das wissen wir alle. Nochmals: Wir können den Naturschutz nicht zubetonieren. Irgendwo muss dieser Landkreis auch seinen Charakter behalten dürfen.

Bezahlbarer Wohnraum ist auch für viele andere Bevölkerungsgruppen extrem knapp. Wie könnte da ein Ausgleich geschaffen werden?

Bei den Zahlen, die heute vorliegen, und denen, die in Zukunft zu erwarten sind, wird es den nicht geben.
Ich sehe keinen Ausgleich. Wir haben nicht die Kapazitäten, was Flächen und was Geld betrifft. Deswegen fürchte ich, dass sich dieser Staat und seine Gesellschaft dramatisch verändern werden. Was wir uns heute noch nicht vorstellen können, wird in einem Vierteljahr Allgemeingut sein.

Es werden also Menschen, die schon lange hier leben und dringend eine Wohnung brauchen, miterleben, wie Flüchtlinge genau jene Wohnung bekommen, die sie selbst gerne gehabt hätten.

So ist es. Die Gemeinden sind bei uns die Obdachlosenbehörden. Da steht derjenige, der keine Wohnung hat, vor dem, der eine schlechte Wohnung hat. Das ist ungerecht und wird zu großen Spannungen führen, nicht nur auf dem Wohnungsmarkt.

Wenn Sie mit Ihrer Beurteilung der Lage nach Stuttgart oder bald nach Berlin zum Gipfeltreffen gehen – was sagt man Ihnen da?

„Wir schaffen das.“

Und schaffen wir das?

Ich sage: Wir schaffen das nicht. Oder um dem Preis eines anderen Staates und einer anderen Gesellschaft. Es fällt mir sehr schwer, das zu sagen. Aber ich bin ernsthaft in Sorge. Politik beginnt mit dem Erkennen der Realität. Und die Realität ist so, wie ich es geschildert habe. Man darf die Menschen nicht anlügen.

Fragen: Jörg-Peter Rau