Fabian Busch

Das Ambiente im Saal ist nüchtern, das Hemd von Tilman Claas dafür mutig gemustert. Seine Texte sind eher heiter, der Anlass dafür ein ernster: ein Konzert als Bachelor-Abschlussprüfung. Unter dem Künstlernamen „Lampe“ steht Tilman Claas auf der Bühne, Kommilitone Julian Heyden begleitet ihn auf Gitarre und Keyboard. Von der ersten Reihe aus begutachten die Dozenten ihre Studenten. Die meisten Texte hat Claas eigens für den Auftritt geschrieben, der Refrain des ersten Liedes passt schon einmal ziemlich gut: „Wir stehen wieder hier, mit Gitarre und Billigklavier. Wir singen unser Lied, und sind froh, dass es diese Möglichkeit gibt.“

Diese Möglichkeit bietet die Popakademie, die einzige staatliche Hochschule in Deutschland, die sich einzig der Popmusik widmet. Sie soll junge Menschen auf den Alltag in der Musikbranche vorbereiten. Keine Eintagsfliegen, keine künftigen Casting-Stars, die Radio-Hits perfekt nachsingen können. Sondern Künstler, die ihre eigene Musik mit Leidenschaft betreiben. Aber auch mit Köpfchen. Und die hoffentlich später davon leben können.
 

Tilman Claas ist vielleicht nicht ganz der typische Popakademie-Student. „Schrammel-Pop“ nennt er seine Musik, weil er weniger Wert auf technische Perfektion legt, dafür mehr auf seine Texte, die mal albern klingen, mal hintersinnig. Als der gebürtige Essener mit 25 aus Berlin an die Hochschule kam, hatte er sich schon ein Profil als Künstler geschnitzt, war etwas älter als die anderen. „Ich wollte hier Menschen finden, mit denen ich meine Musik noch besser umsetzen konnte.“ Auf die stieß er. Allerdings auch auf Stress und Prüfungsdruck.

In der Lehre ging es nicht nur ums Songschreiben, sondern auch um Musiktheorie, Recht, Marketing. Der ständige Druck, bewertet zu werden, ist anstrengend, sagt der 28-Jährige rückblickend. „Aber das macht auch was mit dir. Ich habe mich hier intensiv mit mir selbst gefasst. Ich weiß jetzt klarer, was ich will.“

Die Popakademie Baden-Württemberg wird im kommenden Jahr 15 Jahre alt, 2003 nahm die erste Generation ihr Bachelor-Studium auf. Mannheim hatte sich zuvor gegen die Mitbewerber Stuttgart, Karlsruhe und Freiburg durchgesetzt. Für die Stadt ein Glücksfall: Die Hochschule lieferte nicht nur einen wichtigen Baustein für den Imagewandel hin zur Hochburg der Kreativwirtschaft, sie trieb auch die Entwicklung des Stadtteils Jungbusch neben dem Binnenhafen mit voran: vom verrufenen Rotlichtbezirk zum Szeneviertel, in dem junge wie ältere Vergnügungssuchende abends durch die Kneipen ziehen oder mit Pizza und Dosenbier den Sonnenuntergang hinter der Hafensilhouette verfolgen.

 

Rund um die Popakademie

  • Wie finanziert sich die Popakademie?
    Die Popakademie ist eine GmbH. Die beiden größten Gesellschafter sind das Land Baden-Württemberg und die Stadt Mannheim mit jeweils 41,5 Prozent. Die übrigen Anteile halten der Südwestrundfunk (9,5 Prozent) und die Landesanstalt für Kommunikation (7,5 Prozent). Wie an anderen staatlichen Hochschulen müssen Studierende keine Gebühren bezahlen.
  • Welche Aufnahmebedingungen stellt die Hochschule?
    Für den Bachelor in Popmusik-Design gibt es keinen Numerus Clausus und keine Altersbeschränkung. Bei besonderem Talent können auch Bewerber ohne Abitur ihr Glück versuchen. Die Akademie setzt aber hohe künstlerische Ansprüche und verlangt „mehrjährige musikgestalterische Erfahrung“. Die Aufnahmeprüfung besteht aus einem schriftlichen Teil, in dem unter anderem Wissen zu Musiktheorie und -geschichte abgefragt wird, und einem praktischen Teil. Dafür muss der Bewerber ein Live-Vorspiel absolvieren – mit Playback oder begleitet von einer Band. Das Gleiche gilt für den Bachelor in Weltmusik. Wer am Bachelor Musikbusiness interessiert ist, muss praktische Erfahrung in der Musikbranche nachweisen – etwa über Praktika oder Nebenjobs.
  • Wer doziert an der Popakademie?
    Acht festangestellte Dozenten sind dort tätig. Hinzu kommen zahlreiche externe Dozenten – etwa Musikmanager, Instrumentalisten, Produzenten und Songschreiber.
  • Gibt es in Deutschland vergleichbare Angebote?
    Die Popakademie betont ihr Alleinstellungsmerkmal: Eine weitere staatliche Hochschule, die sich allein der Popmusik widmet, gebe es in Deutschland nicht. Allerdings bietet eine Reihe von staatlichen Einrichtungen Studiengänge zu Populärer Musik an – etwa die Universität Paderborn sowie die Musikhochschulen in Mainz, Leipzig und Hannover. Hinzu kommen Angebote privater Einrichtungen. Dazu gehören Bachelor- und Masterstudiengänge an der Hochschule für Kunst, Design und Populäre Musik (HKDM) in Freiburg sowie an der Berliner SRH-Hochschule der populären Künste. Die „Akademie Deutsche POP“ mit verschiedenen Standorten in Deutschland (unter anderem in Stuttgart) hat neben Studiengängen verschiedene Ausbildungsberufe im gesamten Musikbereich im Programm. (fb)
 

Den gleichen Blick hat auch Udo Dahmen, wenn er aus seinem Büro schaut. Der Weg dorthin führt ins oberste Geschoss der Hochschule, vorbei an Proberäumen, aus denen trotz der guten Dämmung Musik dringt. Dahmen ist Künstlerischer Direktor und Geschäftsführer, er kam 2003 aus Hamburg in den Südwesten – und blieb. „Das hier ist mein Baby.“

Dahmen ist 66, seine klobig-moderne Brille und die jugendliche Kleidung lassen ihn locker zehn Jahre jünger aussehen. Der gelernte Schlagzeuger hat früher an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Musiker von Bands wie „Wir sind Helden“ und „Fettes Brot“ ausgebildet. Womöglich verbanden Politiker in Baden-Württemberg mit seinem Engagement damals auch die Hoffnung, in Mannheim ähnliche Erfolgsgeschichten am laufenden Band zu produzieren. In dieser Form ist das aber nicht passiert – und sei auch nie sein Ziel gewesen, sagt Dahmen. „Wir wollen unsere Studenten in die Lage versetzen, einen künstlerischen Weg zu gehen. Und das möglichst ein Leben lang.“ Wer hier lernt, muss nicht per se einen Nummer-eins-Hit komponieren. Aber sie oder er soll sich über mehrere Jahre so entwickeln können, dass er später von der Musik leben kann. 90 Prozent der Absolventen gelinge das, sagt Dahmen.

Fünf Studiengänge bietet die Popakademie an: den künstlerischen Bachelor in Popmusik-Design sowie den eher wirtschaftlich ausgerichteten Bachelor Musikbusiness – und zwei darauf aufbauende Master-Studiengänge. Hinzu kam 2015 der Bachelor in Weltmusik. Gesang, Instrumentalausbildung, Songschreiben und die wirtschaftliche Seite der Musik gehören an der Popakademie zusammen. 15 bis 20 Prozent der Veranstaltungen besuchen Studenten der verschiedenen Fachbereiche gemeinsam. Sie müssen wie an anderen staatlichen Hochschulen keine Gebühren bezahlen. Das Modell ist begehrt: Auf die rund 30 Bachelor-Plätze in Popmusik-Design kommen laut Dahmen rund 450 Bewerber.

Das wohl wichtigste Aushängeschild unter den Absolventen ist inzwischen der Singer-Songwriter Joris („Herz über Kopf“). Und die Deutsch-Irin Alice Merton schaffte es mit ihrem Ohrwurm „No Roots“ im Frühjahr auf Platz zwei der deutschen Charts. Weniger bekannt sind die Namen erfolgreicher Instrumentalisten, Manager oder Unternehmer, die an der Popakademie studiert haben – etwa Sebastian Schweizer, Geschäftsführer des Labels Chimperator, das den Rapper Cro unter Vertrag hat.

Sänger Joris kommt zum Kulturufer an den Bodensee. (Archivbild)
Sänger Joris kommt zum Kulturufer an den Bodensee. (Archivbild) | Bild: Henrik Josef Boerger (dpa)

Auf Joris und Alice Merton ist man hier besonders stolz, weil sie das angestrebte Erfolgsmodell verkörpern: Der Manager von Alice Merton ist ebenfalls Absolvent, die beiden haben ihren Aufstieg praktisch im Alleingang verwirklicht. Bei Joris besteht fast das gesamte Umfeld aus ehemaligen Popakademie-Studenten.

Ein Stockwerk unter Udo Dahmen hat Co-Geschäftsführer Hubert Wandjo sein baugleiches Büro, er leitet den Fachbereich Musik- und Kreativwirtschaft. Bei ihm studieren also die, die später hinter den Kulissen arbeiten wollen. Bei Künstleragenturen, Plattenfirmen, Konzertveranstaltern. An diesem Tag laufen die Aufnahmeprüfungen für das kommende Semester. Wer einen Platz im Bachelor Musikwirtschaft ergattern will, der müsse zeigen, dass er Blut geleckt hat, sagt Wandjo: „Die Leute müssen überzeugt sein: Ich will unbedingt in diese Branche, mit all ihren Unwägbarkeiten.“

Stefanie Stubner wusste das schon früh. Mit 16 oder 17 suchte sie im Internet nach dem passenden Studium und fand die Popakademie. „Danach gab es keinen Plan B mehr.“ Man würde bei der gebürtigen Münchnerin mit den langen blonden Haaren nicht auf den ersten Blick erwarten, dass sie mal in einer Metal-Band gesungen hat. Aber das Musikmachen soll ihr Hobby bleiben. Die 21-Jährige ist im vierten Semester, nach dem Abschluss will sie bei einem Tournee-Veranstalter arbeiten – oder in der Künstlerentwicklung bei einem Musikverlag. Die Branche, die zu Zeiten der Hochschulgründung noch in einer schweren Krise steckte, macht ihr keine Angst. „Es geht ja bergauf. Die Digitalisierung eröffnet der Musikindustrie neue Vertriebskanäle.“ Auch Hubert Wandjo erklärt, dass das Streamen von Musik wieder Geld in die Kassen bringt – allerdings noch nicht so viel wie noch Ende der 90er, als millionenweise CDs verkauft wurden.

Im künstlerischen Bereich gibt es keine Genre-Vorgaben. Eine klare Grenze zieht Udo Dahmen trotzdem: Einen Schlagerstar wie Helene Fischer würde die Popakademie kaum hervorbringen. „Unser Verständnis von populärer Musik ist, dass sie sich immer auf ihre Ursprünge in der Jugendkultur bezieht.“ Das gilt für Hip-Hop wie für Punk, aber eben nicht für Schlager. Und auch wenn Popkultur immer mit Massentauglichkeit zu tun habe: „Es geht uns zuerst um den künstlerischen Erfolg der Studenten – an den sich dann möglicherweise ein wirtschaftlicher Erfolg anschließt.“

Auch „Schrammel-Popper“ Tilman Claas konnte seinem Stil treu bleiben, für ihn packte die Akademie sogar extra Schauspiel-Unterricht ins Curriculum. Am Tag nach der Abschlussprüfung sitzt er im Foyer. Das Studium ist vorbei, die Karriere könnte jetzt erst richtig losgehen. Ein wenig vorsichtig klingt er noch, als er erzählt, was er vorhat. Er will Lieder aufnehmen, ein Video drehen. Im Frühjahr soll seine „erste richtige Platte“ entstehen. Ob er von der Musik schon leben kann? „Meine Miete kann ich schon mal zahlen“, sagt er. „Und das ist ja schon mal die halbe Miete.“