Der Saal ist Christian L.'s Bühne. Er versteckt sich nicht hinter einem Aktenordner wie andere Angeklagte, die in den Fall verwickelt sind. Stattdessen lässt er seinen Blick durch den großen Sitzungssaal des Freiburger Landgerichts schweifen, ganz so, als nehme er zunächst sein Publikum wahr. Doch es dauert nicht lange, ehe die erste Zuschauerin den Raum verlässt.

Der wegen Kindesmissbrauchs angeklagte Lebensgefährte (2.v.l) und die angeklagte Mutter (2.v.r) in einem Saal des Landgerichts, links ...
Der wegen Kindesmissbrauchs angeklagte Lebensgefährte (2.v.l) und die angeklagte Mutter (2.v.r) in einem Saal des Landgerichts, links Verteidigerin Martina Nägele. | Bild: Patrick Seeger (dpa)

Staatsanwältin Nikola Novak verliest die Anklage. Sie ist so umfangreich, dass sie sich mit einer Kollegin abwechselt. Fast dreieinhalb Stunden dauert es, bis alle Tatvorwürfe gegen Berrin T. (48) und Christian L. (39) genannt wurden. Bereits nach zehn Minuten verlässt eine sichtlich aufgebrachte Frau den Saal. Was die Staatsanwaltschaft da vorträgt, sorgt in den Zuschauerreihen immer wieder für hörbares Luftschnappen, gefolgt von heftigem Kopfschütteln. Im Raum herrscht Fassungslosigkeit über das Gehörte, das unweigerlich grauenhafte Bilder im Kopf hervorruft. Christian L. aber lächelt immer wieder, beinahe verschmitzt.

Erstes Opfer: Eine Dreijährige

Als zum Jahresbeginn bekannt wurde, dass Berrin T. und Christian L. über zwei Jahre hinweg den heute neunjährigen Sohn der Frau misshandelt, missbraucht und gegen Geld pädophilen Männern im Darknet angeboten und die Taten zum Teil gefilmt haben, wurde das 8000-Einwohner-Städtchen Staufen im Breisgau im Mark erschüttert. Der Fall erregte bundesweit Aufmerksamkeit. Zwei Verhandlungen gegen Männer, die sich an dem Jungen vergangen haben, sind bereits abgeschlossen, ein dritter Prozess läuft, ein weiterer steht noch aus. Die Brutalität de Vergewaltigungen des Kindes schockierte die Öffentlichkeit. Doch in der nun begonnenen Freiburger Hauptverhandlung gegen die beiden Angeklagten kommt erst die schreckliche Tragweite des Falls ans Licht.

Die wegen Kindesmissbrauchs angeklagte Mutter sitzt in einem Saal des Landgerichts.
Die wegen Kindesmissbrauchs angeklagte Mutter sitzt in einem Saal des Landgerichts. | Bild: Patrick Seeger (dpa)

Es ist 2015. Berrin T. und Christian L. vergehen sich zunächst an einem damals dreijährigen Mädchen, körperlich und geistig zurückgeblieben. Das ohnehin wehrlose Kind wird mit Handschellen gefesselt, bevor sich die beiden an ihm vergehen. Sie hören auch nicht auf, als die Kleine "bitterlich zu weinen" beginnt, wie es die Staatsanwaltschaft später beschreibt. Vier Mal wird das Mädchen innerhalb eines Jahres vergewaltigt. Filmaufnehmen belegen die Tat: Sie sind dazu gedacht, sie im Darknet kostenpflichtig anzubieten. Das Opfer ist die Tochter einer Frau, die die beiden bei der Tafel kennengelernt haben. Christian L. bot Mutter Jenny zuvor Geld an, um Sex mit ihr zu haben. Schnell interessiert er sich für ihre Tochter. Als das Kind beginnt, sich im Kindergarten auffällig zu verhalten und die Erzieher sie mit den Vorwürfen konfrontieren, weist Berrin T. alles von sich. 

Bereits am frühen Morgen hatten sich viele Medienvertreter vor dem Landgericht in Freiburg versammelt:
Bereits am frühen Morgen hatten sich viele Medienvertreter vor dem Landgericht in Freiburg versammelt:

Dabei ist dies erst der Beginn einer zwei Jahre währenden Folter. Christian L. beginnt sich für Berrin T.'s Sohn zu interessieren. Ein perfider Plan entsteht: Der Junge soll nicht nur von Christian L. missbraucht, sondern auch anderen Männern angeboten werden. Berrin T. vergeht sich zunächst selbst an dem Jungen, um ihn "vorzubereiten" auf das, was folgt. Sie masturbiert vor und an dem Jungen, vergewaltigt ihn teils mit Fesselungen und Maskierungen. Doch die Qual des Kindes wird noch größer. Denn der Junge soll auch auf Analverkehr mit den "Kunden" vorbereitet werden. Als die Staatsanwältin die Methoden beschreibt, schütteln sich mehrere Zuschauer angewidert. Christian L. hingegen sitzt ruhig da, die Beine übereinandergeschlagen, die weißen Sneakers sind ebenso makellos wie sein sorgfältig getrimmter Kinn- und Schnurrbart, am Arm prangt eine große Uhr. Er macht sich Notizen auf der Kopie der Anklageschrift, die vor ihm liegt. Und wieder huscht das Lächeln über sein Gesicht. Als bereite ihm das Vergnügen, was da verlesen wird. 

Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich Mitglieder der Initiative "Aktiv gegen Missbrauch" zu einer Mahnwache eingefunden.
Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich Mitglieder der Initiative "Aktiv gegen Missbrauch" zu einer Mahnwache eingefunden. | Bild: Mirjam Moll

Zunächst vergeht er sich an dem Neunjährigen. Der muss alles über sich ergehen lassen, seine Mutter hält ihn fest, als Christian L. ihn anal pentriert. Das Kind wird zum Teil ans Bett gefesselt, von seiner Mutter missbraucht, von ihrem Lebensgefährten. Dann kommen die "Kunden". Das Schema ist immer gleich: Der Junge wird nackt fotografiert, mit einem Schild um den Hals mit dem Decknamen des jeweiligen Mannes. Wenn er etwas sagt, wird ihm eingeschärft, dann komme er ins Heim. Es wird ein Treffpunkt verabredet, wie etwas in dem Wäldchen oberhalb der Straße in Staufen, in der Berrin T. zuletzt mit ihrem Sohn und dann auch Christian L. gelebt hat. 

Christian L. geht mit dem Jungen in den Wald, zwingt ihn zu sexuellen Handlungen. Der eigentliche "Kunde" kommt hinzu, gibt sich als Polizist aus. Der Junge müsse auch ihn befriedigen, wenn er nicht wolle, dass seine eigene Mutter ins Gefängnis komme, heißt es. Der Freund seiner Mutter will von dem Kind Papa genannt werden, bemüht sich um eine Art Pseudoverhältnis mit ihm. Das geht so weit, dass der Junge gezwungen wird, während der Misshandlungen zu sagen: "Ich habe Papa lieb." Aber er weiß, dass Christian L. nicht sein Vater ist. Seinen leiblichen Vater hat er nie kennengelernt. Er ist tot.

Ein Spanier vergeht sich 15 Mal an dem Kind

Das perverse Geschäftsmodell etabliert sich – ein Spanier vergeht sich allein 15 Mal an dem Kind. Er gibt sich als Gönner, unterstützt das klamme Paar finanziell, schenkt dem Jungen Spielkonsolen und gibt ihm Geld – Schweigegeld. Berrin T. und Christian L. kaufen sich von den mehreren tausend Euro, die der Mann bezahlt, einen neuen Fernseher.

Schließlich ist Christian L. an der Reihe. Er gibt der Anklage recht, bis "auf ein paar Kleinigkeiten". Fast scheint es, als habe er nur auf diesen Moment gewartet. Er bemüht sich, sachlich zu bleiben, ahmt das Justizdeutsch nach. Doch die Fassade bröckelt. Warum war Berrin T. so oft dabei, will der Richter wissen, wenn er sich an dem Kind vergangen hat: "weil es mich geil gemacht hat". Trotzdem sieht er sich als jemanden, der für den Jungen da war. Berrin T. hingegen, die sei mit dem Kind überfordert gewesen. Christian L. erzählt so viel, dass der Richter vorschlägt, ein schriftliches Geständnis zu erarbeiten. Das aber will L. nicht. Er will eine Bühne. Mehr erzählen. Endlich im Rampenlicht stehen. Am kommenden Montag wird er dazu wohl wieder Gelegenheit haben.

 

Eindrücke in Bild und Video vom Prozess
 

Der Prozess hat als öffentliche Verhandlung begonnen - die Zuschauerränge im Gerichtssaal waren erstaunlicherweise nicht komplett besetzt.

 

Staufen-Prozess (Video 2) Video: Mirjam Moll

 

Vor Prozessbeginn warteten Vertreter von Presse und Rundfunk auf die Angeklagten: Fotografen und Fernsehteams hielten sich im Gerichtssaal bereit. 

 

Prozess in Freiburg (Missbrauchsfall Staufen) Video: Mirjam Moll

 

Dann wurden die Angeklagten hereingeführt. 

Bild 5: Protokoll des Grauens: So verlief der erste Tag des Hauptprozesses im Staufener Missbrauchsfall
Bild: Mirjam Moll

Beide waren mit Handschellen gefesselt. 

Bild 6: Protokoll des Grauens: So verlief der erste Tag des Hauptprozesses im Staufener Missbrauchsfall
Bild: Mirjam Moll

Auch Prozessbeobachter trieb die Frage nach der Motivation der Mutter für die mutmaßlich von ihr begangenen Taten um.

 

Prozessbeobachter vor dem Landgericht Freiburg Video: Moll