Briefe hat Nicole Thieke schon viele empfangen und geschrieben. Als dreifache Mutter, Lehrerin und Vereinsvorsitzende ergibt sich das ganz natürlich. Das dicke Kuvert aber aus dem Staatsministerium Stuttgart hatte es an sich und in sich. Es fühlte sich anders an. Erst war es das solide Kuvert, in dem der doppelseitige Brief in gewellter Form steckte. Und dann der Inhalt: Die 74-Jährige erhält das Bundesverdienstkreuz am Band, steht dort in amtlicher Nüchternheit. Zusammen mit 19 anderen Bürgern wird sie 1. Dezember im Neuen Schloss in Stuttgart ausgezeichnet. Alle 20, so heißt, haben sich den Orden in ihrer Freizeit erstritten – und nicht im Hauptberuf in Verwaltung oder Politik. Das Stuttgarter Schreiben mit Wasserzeichen und Landeswappen ist von Winfried Kretschmann mit blauer Tinte unterschrieben.

Mit Nicole Thieke hat der Bundesadler eine würdige Trägerin unter den Fittichen. Die Rentnerin widmet sich Jahren der Entwicklungshilfe in Afrika. Durch lange Erfahrung und sorgfältiges Beobachten kamen sie und ihr Verein "Hallo Kongo" zu einer neuen Form der Unterstützung: Sie konzentrieren sich auf ein, maximal zwei Projekte, auf die sie alle Energie werfen. Und sie umgehen offizielle Stellen, soweit es nur geht. "Wir arbeiten immer mehr an den Regierungen vorbei," sagt sie selbstbewusst im Gespräch.

Nicole Thieke mit Abiturienten der Accademia-Schule im Kongo.
Nicole Thieke mit Abiturienten der Accademia-Schule im Kongo. | Bild: Nicole Thieke

Schulen im Kongo

Bei ihrem Engagement kam eines zum anderen. Mehr zufällig waren sie und Ihr Mann auf Kongo gekommen – den riesigen Staat im Herzen Afrikas. Der Staat, der autoritär von Joseph Kabila regiert wird, verspricht allen Kindern einen Platz in der Schule. Doch steht diese Garantie nur auf dem Papier. "Etwa ein Viertel der Kinder besucht nie eine Schule", weiß Thieke. Entweder weil es kein Gebäude gibt oder weil die Einrichtung Schulgeld verlangt, was sie eigentlich nicht dürfte – dann aber doch muss, da die Lehrer nicht mehr vom Staat bezahlt werden und sich an den Eltern schadlos halten.

Frau Thieke beschreibt diesen Teufelskreis detailliert und nüchtern. Bereits während eines Lehrjahrs in Indien befasste sie sich mit dem Phänomen, das dahintersteckt: der Korruption. Ihre Einsicht damals fasst sie so zusammen: "Der Kampf gegen Korruption ist auch in einem korrupten Umfeld möglich." Auf den Kongo übertragen heißt das, dass man auch dort eine Schule ordentlich verwalten kann, auch wenn alle Schulen ringsum nur durch Schmieren und Schnorren am Laufen gehalten werden. Mit der Accademia-Schule hat der Verein "Hallo Kongo" bewiesen, dass es funktioniert. Das System ist einfach: Der eingetragene Vereine sammelt jährlich etwa 40 000 Euro ein. Mit diesem Betrag werden die Lehrer bezahlt; die Pädagogen sind damit nicht auf Zuwendungen unter der Hand angewiesen, die sie für frisierte Schulnoten nehmen oder für die Versetzung von Schülern, die gar nicht versetzt werden dürften. "Im Kongo ist Sitzenbleiben eine Schande für die gesamte Familie," sagt sie schmunzelnd. Deshalb seien Familien willens, die "Schande" wenigstens nach außen zu vermeiden.

Dieser Stil von Entwicklungshilfe setzt auf Vertrauen. Der deutsche Verein sammelt und überweist das Geld – vor Ort präsent ist er kaum. Nicole Thieke, die geborene Schweizerin, will auch nicht dauernd kontrollieren. Entscheidend für das Gelingen ist das Bindeglied zwischen Schule und Spendern. Sie heißt Lucienne Munono und leitet die Accademia-Schule seit vielen Jahren. Lucienne, inzwischen schon 65, garantiert, dass die Lehrer bezahlt und die Kinder nicht geschröpft werden. Die Thiekes lernten die Kongolesin vor vielen Jahren mehr zufällig kennen. Aus dem Zufall wurde Freundschaft und schließlich eine Partnerschaft, die vielen Menschen nutzt.

Schulleiterin Lucienne Munono (links) mit Nicole Thieke.
Schulleiterin Lucienne Munono (links) mit Nicole Thieke. | Bild: Nicole Thieke

Um 40 000 Euro jährlich zu sammeln, benötigt man ein gutes Netzwerk – und die unterschiedlichsten Quellen. Die originellste fließt aus altem Zahngold, das Patienten einer nahen Praxis freiwillig spenden. Alle zwei Jahre flattert aus nicht mehr gebrauchten Füllungen ein Betrag von bis zu 15 000 Euro in die Kasse der Aktion.