Ostrach hat sanfte Hügel, große Waldgebiete und offenbar kein Frauenproblem. Zumindest, was das Interesse an der Politik angeht. Ende Juni wählt der Ort bei Sigmaringen, rund siebentausend Einwohner, ein neues Oberhaupt. Und schon jetzt zeichnet sich ab: Es ist ziemlich wahrscheinlich weiblich.
Vier Frauen treten bei der Wahl in Ostrach an
Wenn man eine Momentaufnahme aus dem Mai zählen lässt, treten in Ostrach im Wahlkampf um das höchste Amt gleich vier Bewerberinnen gegeneinander an. Sie alle sind kompetent, engagiert, qualifiziert. Und natürlich – Frauen.
Da wäre zum Beispiel Ina Schultz, 44, Wirtschafts- und Verwaltungsexpertin. Sie bringt Erfahrung aus Gremien mit, dazu ein solides politisches Netzwerk auf Landes- und Bundesebene. Dann Heike Sonntag, 46, Diplom-Verwaltungswirtin, die gerade noch Kämmerin der Stadt Meersburg ist.
Auch Lena Burth, 26, hat sich beworben. Die gebürtige Ostracherin arbeitet als Betriebsprüferin bei der Finanzverwaltung, ist für den Regierungsbezirk Tübingen und Stuttgart zuständig. Und schließlich Nicole Baur. Die 40-jährige Diplom-Finanzwirtin hat sich als ebenfalls in Ostrach zur Wahl gestellt.
Vier Frauen also. Sie alle wollen Christoph Schulz in seinem Amt beerben. Die erste Frau im Rathaussessel von Ostrach sein. Normal ist das auch im Jahr 2023 nicht.

Die Kommunalpolitik lebt in schwierigen Zeiten. Oberhaupt eines Ortes sein – das heißt Ambitionen verfolgen, bereit sein, mehr zu investieren, freie Zeit, Verantwortung, aber auch so etwas wie Privatleben. In vielen Gemeinden ist es deshalb schwierig, dafür überhaupt nur einen Kandidaten zu finden. Noch viel seltener sind es Frauen.
Der oberste Chef, der sagt, wo es lang geht, das Gesicht der Gemeinde – in den allermeisten Fällen ist das immer noch ein Mann. Nach einer Studie des Rates der Gemeinden und Regionen in Europa aus dem Jahr 2019 steht in nur 11,4 Prozent aller deutschen Kommunen eine Frau an der politischen Spitze. Damit liegt Deutschland noch unter dem europäischen Durchschnitt von 15 Prozent.
Je höher das Amt, desto seltener sind es Frauen
Nicht viel besser sieht es in den Gremien aus. Einer Studie von Forschenden der Fern-Universität in Hagen zufolge ist in den Stadträten deutscher Großstädte durchschnittlich nur ein gutes Drittel der gewählten Mitglieder weiblich. Je wichtiger das Amt, so die Ergebnisse der Untersuchung, desto seltener ist es von Frauen bekleidet.
In Ostrach bedauert man das – und kämpft gegen verstaubte Politikeliten an. Eine davon ist Ina Schultz. Die 44 Jahre alte Betriebswirtin und dreifache Mutter arbeitet seit 2016 als Referentin einer Landtagsabgeordneten. Politische Routinen, die kennt sie. Bürgermeisterin von Ostrach sein? Sie traut sich das zu.
Als überhaupt erste Frau hat sie ihre Kandidatur in der Gemeinde öffentlich gemacht. Dass sie nicht die einzige blieb, habe sie überrascht, sagt sie, „sehr positiv überrascht“. Die Situation des Siebentausend-Seelen-Ortes ist besonders, daran gibt es keine Zweifel. Doch Ina Schultz hat recht, wenn sie sagt: „Es sollte nichts Besonderes sein, wenn sich nur Frauen bewerben.“ In vielen anderen Fällen sind es nur Männer.
„Frauen machen 50 Prozent der Gesellschaft aus. Dieses Abbild muss auf allen Ebenen repräsentiert sein“, findet sie. Bisher ist aber auch der Südwesten des Landes weit von dieser Parität entfernt. In Baden-Württemberg befindet man sich nach Daten des Statistischen Landesamts gerade einmal auf der Hälfte des Weges. Nach den Gemeinderatswahlen 2019 war demnach etwas mehr als ein Viertel der Abgeordneten in Gemeinderäten – 26,8 Prozent – weiblich. Immerhin: eine Verbesserung gegenüber den Vorjahren.
Woran liegt es, dass Frauen nach wie vor so dermaßen unterrepräsentiert sind? Dass es so wenige Gemeinderätinnen gibt? So wenige an der Spitze einer Stadt, einer Kommune stehen?
Es habe auch etwas mit dem Selbstbewusstsein vieler Frauen zu tun, meint Heike Sonntag. Die Diplom-Verwaltungswirtin hat sich als zweite Frau in Ostrach beworben. Durch ihre Arbeit in der Meersburger Kämmerei ist sie im politischen Umgang sattelfest. Heike Sonntag sagt: „Frauen zweifeln eher als Männer an sich selbst.“ Gerade dann, wenn es um höhere Führungsriegen geht.
Auch deshalb, meint die 46-Jährige, seien gehobene Stellen häufiger von Männern besetzt, obwohl es in den Ausbildungen oft Frauenüberschüsse gebe. „Das war schon vor zehn Jahren so, als ich in die Kämmerei gekommen sind.“ Ein schiefes Bild, das aufgebrochen werden müsse.
Rollenklischees und Rahmenbedingungen behindern Frauen
Beide Kandidatinnen, Heike Sonntag und Ina Schultz, sehen strukturelle Rahmenbedingungen, die die Chancengleichheit behindern. Sie sehen Rollenklischees der Gesellschaft, die den Zug der Frauen ins Bürgermeisteramt erschweren. „Wir sollten Menschen nicht nach ihrem Geschlecht, sondern nach ihren Fähigkeiten beurteilen“, sagt Heike Sonntag. „Wir müssen da raus“, meint Ina Schultz. Raus aus dieser Spirale, dabei seien viele Akteure in der Pflicht.
Regierungen, Verwaltungen und Parteien. Aber auch die Medien, die Zivilbevölkerung. Stigmata müssten aufhören, der Beruf einer Bürgermeisterin müsse flexibler werden, meint Ina Schultz. „Es ist ein verantwortungsvoller und zeitaufwendiger Job. Die Vereinbarkeit mit der Familie muss trotzdem möglich sein.“ Davon würden ebenso Männer profitieren, die das Amt bekleiden.

Das Bundesfamilienministerium verweist hierbei auf die repräsentative Studie „Parteikulturen und die politische Teilhabe von Frauen“, die 2021 in Auftrag gegeben wurde. Als Ursache für den relativ geringen Frauenanteil in der Politik gelten demnach vor allem die zeitliche Beanspruchung durch politische Abend- und Wochenendtermine, die Kollision mit dem privaten Leben, die spezielle politische Diskussions- und Streitkultur und die Geringschätzung von Themen, für die sich Frauen besonders einsetzen. So weit, so bekannt.
Um eine solche Kultur zu ändern, reiche es nicht aus, einzelne Frauen in den Gremien sitzen zu haben. Es braucht eine grundlegende Änderung, die die Politik unter anderem mit der Wahlrechtsreform angegangen ist. So wurde erst im März dieses Jahres beschlossen, die Zahl der Abgeordneten im Bundestag auf 630 zu begrenzen.
Außerdem hatte die Kommission, die die Parlamentsarbeit modernisieren soll, den Auftrag, verfassungskonforme Vorschläge zu erarbeiten, wie eine gleichberechtigte Repräsentation von Frauen und Männern im Bundestag erreicht werden kann. Ende April hat die Kommission den Abschlussbericht beschlossen – mit der Empfehlung, den Frauenanteil zu erhöhen. Doch sei man sich uneinig über den konkreten Handlungsbedarf, heißt es vom Ministerium.
Das ist nicht ungewöhnlich. Die Ausgestaltung des Wahlrechts sei nach Staatspraxis Sache des Deutschen Bundestags, schreibt das Ministerium. Gesetzentwürfe werden also aus der Mitte des Bundestages eingebracht, die Bundesregierung hält sich hier regelmäßig zurück.
Bedürfnisse von Männern und Frauen unterscheiden sich
„Zudem ist es eine Kernfrage für die Demokratie, wie die Rahmenbedingungen für die politische Partizipation künftig ausgestaltet werden, damit noch mehr Bürgerinnen und Bürger unterschiedlich und vielfältig in den Gremien über die Geschicke ihrer Gemeinde, ihrer Stadt und ihres Landes auf demokratisch legitimierter Basis mitbestimmen“, erklärt die Sprecherin. Dafür sei es wichtig, dass Frauen sich und ihre Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse in politische Entscheidungsprozesse einbringen.
Denn diese unterscheiden sich zum Teil erheblich von denen der Männer. „Wenn die bislang zahlenmäßig männerdominierten Parlamente künftig paritätisch mit Männern und Frauen besetzt werden würden, käme es zu stärker ausgewogenen und passgenaueren politischen Entscheidungen“, schreibt das Bundesfamilienministerium.

Mehr Frauen – nützen würde das allen. Ganz besonders der Demokratie. Gesetzliche Maßnahmen der Politik, die dieser Idee Struktur geben, fehlen bislang aber. Indes versucht das weibliche Geschlecht vor allem, sich selbst zu helfen. Mit Bildung. Mit Programmen und Netzwerken, die mehr Frauen in ihrem Handeln bekräftigen. Was außerdem hilft, sagt Ina Schultz: Vorbilder.
Vorbilder, die andere inspirieren. „Je mehr Frauen in Führungspositionen kommen, desto mehr kommen hinterher.“ Für die gebürtige Thüringerin ist es die Landtagsabgeordnete Andrea Bogner-Unden, die sich in einem männlich geprägten Umfeld etabliert hat. Oder Landrätin Stefanie Bürkle aus dem Kreis Sigmaringen. Oder starke Bürgermeisterinnen wie Doris Schröter aus Bad Saulgau. „Solche Entwicklungen verfolge ich. So ein Vorbild möchte ich selbst gerne sein.“