Ralph Gerster zählt zu der quirligen Sorte von Bürgermeistern, die selten um Antworten verlegen sind. Gerster – Anfang 50, schlank, weißes Hemd ohne Krawatte – stößt die Tür zum Ratssaal der Gemeinde Herdwangen-Schönach auf. Vier Tische sind zu einem pompösen Quadrat verkeilt. An drei Seiten des Quadrats stehen die zwölf Stühle ohne Lehnen für die Gemeinderäte bereit.

Bürgermeister Ralph Gerster: „Das ist eine tiefe Enttäuschung. Aber wie sollen wir damit umgehen?“
Bürgermeister Ralph Gerster: „Das ist eine tiefe Enttäuschung. Aber wie sollen wir damit umgehen?“ | Bild: Fricker, Ulrich

An der Stirnseite aber sitzt der Bürgermeister – sein Sessel hat eine Armlehne. Doch heute versinkt er zusehends in dem schweren Möbel Marke Büro-Barock. Er ringt stellenweise um Worte. „Meine Herrn“, entfährt es dem routinierten Kommunalpolitiker, „meine Herrn!“

Aufregung in der stillen Gemeinde

Der CDU-Mann ist ratlos, wie er bei unserem Treffen sagt. Auch ihn treibt der Fall von Emil Stehle um. Der 2017 verstorbene katholische Geistliche stammt aus Gersters Gemeinde und hat zum Dorf stets engen Kontakt gehalten. Das wärmte beide Seiten – den berühmten Sohn, der es zum Bischof brachte und als Befreiungstheologe hohe Verdienste erwarb.

Und es freute auch das Dorf im Kreis Sigmaringen, das ihn 2001 zum Ehrenbürger erhob. So weit, so gut – wäre da nicht die Aufarbeitung der Fälle von schwerem sexuellem Missbrauch innerhalb der Kirche. Die Mühlen des Forschens und Prüfens mahlen langsam, doch nun haben sie auch den verdienstvollen Emil Stehle erwischt – und damit auch den Stolz der stillen Gemeinde im Linzgau.

Ralph Gerster belastet die Situation. Herdwangen ist ebenso wie Schönach tief katholisch geprägt. Das Rathaus diente einst dem Kloster Petershausen als Rentamt. Ein Bischof ist dort noch etwas Besonderes, ein Vorbild, zumal wenn er aus den eigenen Reihen kommt.

Eine zutiefst katholisch-bäuerliche Gegend: Im Weiler Mühlhausen wurde Emil Stehle geboren.
Eine zutiefst katholisch-bäuerliche Gegend: Im Weiler Mühlhausen wurde Emil Stehle geboren. | Bild: Fricker, Ulrich

Das Gespräch mit Gerster gerät zur Meditation über Schuld und Verstrickung. Und über Bedürfnisse, die offenbar auch ein Mann hat, der dem Zölibat verpflichtet ist. „Wie sollen wir damit umgehen“, fragt Gerster in den stattlichen Ratssaal hinein. Keiner der zwölf Stühle gibt ihm Antwort.

Kann er Ehrenbürger bleiben?

Auf dem Flur hängen die Fotos der Ehrenbürger. Alles Herren in Schwarz, nur einer trägt eine violett leuchtende Soutane. In dem bischöflichen Gewand steckt Emil Stehle, wie er vor 20 Jahren in der Dorfhalle gefeiert wurde. Ein großer Sohn der Gemeinde. Und ein Bild aus einer Zeit, als sich die Belästigten noch nicht trauten, den Mund aufzumachen.

Kann er hier bleiben? Diese Galerie der Ehrenbürger von Herdwangen-Schönach hängt im Rathaus. Ganz rechts in violetter Soutane Emil Stehle.
Kann er hier bleiben? Diese Galerie der Ehrenbürger von Herdwangen-Schönach hängt im Rathaus. Ganz rechts in violetter Soutane Emil Stehle. | Bild: Fricker, Ulrich

Der Bürgermeister weiß seit einigen Monaten von den massiven Vorwürfen gegen Stehle. Die Verarbeitung des Schocks beginnt. Er will mit der Familie sprechen, sagt er. Und die Ehrenbürgerwürde? Gerster schaut an die Decke, sein Dreitagebart wird im Vollformat sichtbar. Er sagt, er wolle dem Gemeinderat nicht vorgreifen.

Die postume Aberkennung der höchsten kommunalen Auszeichnung hält er für einen radikalen Schritt, der zurzeit nicht im Gespräch sei. Immerhin: Die bayrischen Gemeinden Marktl am Inn oder Freising überlegen sich, ob sie dem ehemaligen Papst Benedikt XVI. die jeweilige Ehre entziehen.

Die Stiftung distanziert sich

Eine ganz andere Institution hat bereits Konsequenzen gezogen: Die „Emil Stehle Stiftung“, die Bürger in Dossenheim (bei Heidelberg) gegründet hatten. Sie wurde kurzerhand umbenannt und heißt jetzt „Brücke nach Ecuador“, bestätigt Karin Pfeifer vom Vorstand der Stiftung dem SÜDKURIER. Die Unterstützung für die Katholiken dort bleibt, aber der Briefkopf wird geändert. Mit Stehle werben will die Stiftung nicht mehr.

In Herdwangen erinnert dagegen vieles an den Missionsbischof. Eine Straße im Neubaugebiet ist nach ihm benannt – in diesem Viertel wohnen vor allem zugezogene Familien, die vor hohen Baulandpreisen in Überlingen fliehen. Mit dem Namen Stehle könne sie gar nichts anfangen, sagt eine Frau in einer roten Windjacke, die von einem riesigen Mischling gezogen wird, der neugierig an den fremden Autoreifen schnuppert.

Besuch in Mühlhausen

Die Einheimischen, die Altdörfler wissen wohl Bescheid. Der Name ist bis heute präsent. In der Herdwanger Kirche St. Peter und Paul erinnert eine Tafel an den großen Sohn Emil Stehle. An der Figur des Kirchenpatrons Paulus hängen zwei dunkel schillernde Federn aus dem Gefieder eines Vogels aus Ecuador. Auch sie erinnern an Stehle, den Bischof von Santo Domingo.

Zwei exotische Vogelfedern erinnern in der Dorfkirche an Stehles Wirken in Ecuador.
Zwei exotische Vogelfedern erinnern in der Dorfkirche an Stehles Wirken in Ecuador. | Bild: Fricker, Ulrich

Ein paar Kilometer nördlich liegt Mühlhausen. Wer sich auf die Spuren des dieses Bischofs macht, kommt an diesem Weiler nicht vorbei. Der Ort besteht aus zwei Dutzend Häusern und einer Kapelle, eingebettet in Wiesen. Hier, in dem mächtigen alten Bauernhaus, wurde Emil Stehle geboren, und ein Teil der Verwandtschaft lebt bis heute dort. Auch Otto Stehle gehört dazu. Er kommt gerade vom Sägen. Sägmehl haftet noch am Kragen des Hemdes.

Der Patensohn ist irritiert

Der 71-Jährige ähnelt seinem Onkel Emil Stehle verblüffend. Dasselbe offene Gesicht, die blauen Augen, die stämmige Statur. Die Enthüllungen über seinen Gette (Patenonkel) haben ihn angefasst. „Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen wegen dem Ganzen“, sagt er dem Reporter. Was er über seinen Onkel über Zeitung und Internet erfährt, erschreckt ihn zutiefst.

Otto Stehle, Neffe und Patenkind von Bischof Stehle.
Otto Stehle, Neffe und Patenkind von Bischof Stehle. | Bild: Fricker, Ulrich

Er bittet den Reporter hinein in das neue Wohnhaus, das er neben dem alten Bauernhaus gebaut hat. Selbst gebaut, wie er stolz vermerkt, und er hat fast keine Schulden mehr drauf. Auf dem Küchentisch liegt das „Konradsblatt“. Der kräftige Mann kommt ins Grübeln, er versteht den tiefen Fall des Gette nicht.

Seine Tochter war noch drüben in Ecuador und hat in eine Schule gespickt, die der berühmte Großonkel gebaut hat. Stehle hatte damals eine stattliche Reihe von Freiwilligen motiviert, einige Monate in seiner Diözese Südamerika zu verbringen. Die meisten kamen mit guten Eindrücken zurück. Und jetzt springt die Büchse der Pandora auf – der Missbrauch, in den die Lichtgestalt in krimineller Weise verwickelt ist.

„Der Onkel kann sich ja nicht mehr wehren.“

Otto Stehle bringt es nur schwer zusammen. Es nagt am Gottvertrauen dieses Landwirts. Dann sagt er: „Das ist halt auch nur ein Mann.“ Nicht alle sind so geduldig. Ein anderes Familienmitglied, das zufällig vorbeikommt, winkt ab. „Da wird viel zu viel geredet“, sagt die Frau, und: „Warum kommt das alles erst jetzt ans Tageslicht?“, fragt sich – als ob die belästigten Frauen irgendwie taktiert hätten. „Der Onkel kann sich ja nicht mehr wehren.“

Allen, die Emil Stehle erlebt haben, geht es so. Sie bringen den fröhlich-charismatischen Bischof nicht mit Missbrauch zusammen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland lebte er im Pfarrhaus von St. Stephan, mitten in Konstanz. Im zweiten Stockwerk hatte er eine Wohnung bezogen, in der vieles an seine Zeit in Lateinamerika erinnerte. Gerne führte er Besucher ins Arbeitszimmer, das wie ein Tropenbüro eingerichtet war.

Im Neubaugebiet ist eine Straße nach dem Ehrenbürger benannt.
Im Neubaugebiet ist eine Straße nach dem Ehrenbürger benannt. | Bild: Fricker, Ulrich

Neben dem kleinen Schreibtisch stand ein hölzerner Pfahl, den ihm die Indios zum Abschied geschenkt hatten. An den Wänden hingen Urkunden, darunter ein Ehrendoktor sowie die Orden verschiedener Staaten. Zum Auftakt jedes Gesprächs packte der Monsignore eine Zigarrenkiste aus und bot Rauchware an. Mit dem karibischen Kraut war der Besucher mindestens eine Stunde lang beschäftigt. Würzig war der Tabak und das Gespräch erst recht.

Stehle wurde vor knapp fünf Jahren in Herdwangen beigesetzt. Ein schlichter polierter Grabstein erinnert an den Rückkehrer. Auf der Grabplatte stehen Weidenkätzchen und ein frisches Gesteck mit Narzissen, die eben aufgegangen sind. Das Grab wird gepflegt.