Buen Nuhijis Alptraum beginnt am 2. Dezember 2018 um 6 Uhr morgens. Seine Frau wird schlagartig wach. Grelle Lichtkegel schießen von draußen durch das Schlafzimmerfenster. Sie hört Stimmen, Schritte, Funkgeräte.
Plötzlich knallt es. 20 gepanzerte Kräfte des Spezialeinsatzkommandos stürmen den zweistöckigen Altbau in der Tuttlinger Bergstraße. Zu diesem Zeitpunkt gehen die Ermittler davon aus, dass Nuhiji in der Wohnung 120 Kilo Kokain und zahlreiche Waffen versteckt. Laut einem V-Mann der Polizei soll in Kürze ein bewaffneter Drogendeal über die Bühne gehen.
Die Polizisten schreien durchs Treppenhaus, durchbrechen die Eingangstür im Erdgeschoss, dann im ersten und schließlich im zweiten Stock. So wurde die Situation später vor Gericht beschrieben. Und so erinnert sich auch Buen Nuhiji noch knapp zwei Jahre später in seinem Wohnzimmer an den Morgen, der alles verändern wird.

„Meine Frau hat mich geweckt. Ich habe davor überhaupt nichts gemerkt. Dann höre ich auf einmal, wie die Wohnungstür bricht. Sie haben uns auf den Boden geworfen und mit Kabelbindern die Hände festgebunden. Wir lagen auf dem Bauch, bekamen schlecht Luft. Aber das Schlimmste war: Ich habe überhaupt nicht verstanden, was los ist und was wir falsch gemacht haben. Sie hatten Hunde dabei. Die haben alles auseinander genommen. Und egal wo wir waren, die Polizisten haben immer mit Sturmgewehren auf uns gezielt. Es war wie im Krieg.“
Nuhiji wirkt gefasst, hat die Strapazen dieser Horrornacht gut überstanden. Bei seiner Familie ist das anders. Seine Frau wird emotional, kämpft mit den Tränen, als sie dem Reporter die nervenaufreibende Geschichte schildert. Einer ihrer beiden Söhne erleidet kurz nach der Razzia einen Hörsturz. Er ist seitdem auf einem Ohr taub – und wird sich von den Folgen wohl nie erholen.
„Irgendwann saß ich am Küchentisch. Ich durfte eine rauchen. Die Aktion ging ja mehrere Stunden. Die Straßen rundherum waren abgesperrt. Ich wollte wissen, was los ist. Sie haben aber am Anfang überhaupt nichts gesagt. Irgendwann hat die Ermittlerin, die Chefin der Gruppe, mir dann einen roten Zettel hingelegt. Den sollte ich lesen. Da stand: Haftbefehl. Und irgendwas mit Drogenhandel. Genauer weiß ich das nicht mehr. Ich war total geschockt. Als ich aber dann das Datum sah, wann sich die Tat angeblich ereignet haben soll, wurde mir auf einmal alles klar.“

Neun Monate zuvor. März 2018. Buen Nuhiji beendet seine Schicht am Schmelzofen bei einer großen Firma in Tuttlingen. Wie immer, macht der 44-Jährige nach einem harten Arbeitstag einen Abstecher zu seinem Stammkaffe. Nuhiji trinkt leidenschaftlich gern Espresso. Die Kneipe ist nur einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt. Kurz vor dem Eingang spricht ihn ein Bekannter an. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit in Albanien, haben schon im Sandkasten zusammen gespielt.
„Er hat mich gefragt, ob ich kurz einen Freund am Bahnhof abholen kann. Wissen Sie: Ich bin ein gutmütiger Mensch. Wenn mich jemand nach einer Zigarette fragt, gebe ich gerne eine. Wenn ich jemanden zu einem Espresso einladen darf, mache ich das. Und deshalb war auch die Fahrt selbstverständlich für mich. Wir fuhren dann zum Bahnhof. Da hat ein älterer Mann gewartet. Mein Bekannter und er begrüßten sich. Beide stiegen ein. Wir fuhren zurück. Und das war es schon. Ich habe mir nichts dabei gedacht.“
Was Buen Nuhiji nicht weiß: Der Mann, den die beiden abholen, ist ein V-Mann der Polizei. Er soll den Ermittlern Drogenhändler liefern. Die Polizei beobachtet aus der Ferne, wie Nuhiji den V-Mann einsammelt und zum Kaffee chauffiert. Für die Ermittler ist hier schon alles klar: Nuhiji steckt mit drin. Der Vorgang wird in den Akten vermerkt. Dann machen die Ermittler Feierabend. Dass Nuhiji kein Wort mit dem V-Mann wechselt und sofort nach Hause geht, registrierten die Beamten nicht mehr.

In den folgenden neun Monaten hören die Ermittler Nuhijis Telefon ab, verwanzen sein Auto und seine Wohnung. In den unzähligen Telefonaten deutet nichts Konkretes darauf hin, dass Buen Nuhiji in den Kokain-Deal involviert ist, wie später auch bei Gericht festgestellt wird. Trotzdem verlässt sich die Polizei blind auf die Aussage des Spitzels – und Nuhiji bleibt hinter Gittern. Wie sich später im Mammut-Prozess herausstellen wird: Ein fataler Fehler.
„Nachdem die Polizei mein Haus auf den Kopf gestellt hat, haben sie mich mitgenommen. Ich wurde in eine kleine Zelle gesteckt. Ich saß nur da. Habe die ganze Nacht geweint. Ich war verzweifelt. Ich habe die Fliesen an der Wand gezählt. Ich bin im Kreis gelaufen. Und irgendwann habe ich mich an das Fenster mit dem Eisengitter gestellt und mich gefragt: Buen, was passiert hier mit dir? Was hast du getan, dass das mit dir geschieht? Aber im Inneren wusste ich trotzdem: es wird sich alles aufklären.“
Dass 360 Tage, also knapp ein Jahr vergehen würde, bis seine Unschuld tatsächlich bewiesen ist, ahnt Buen Nuhiji, der seit 1988 in Deutschland lebt, zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er wird ins Gefängnis nach Villingen-Schwenningen verlegt, teilt sich eine Zelle mit zwei Häftlingen. Und eine Justizvollzugsanstalt voll mit Kinderschändern, Mördern, Steuerhinterziehern und echten Drogenbossen.
„Die Zeit im Knast war heftig. Aber ich habe das Beste draus gemacht. Ich habe mich mit den anderen gut verstanden. Obwohl 99 Prozent der Häftlinge lügen, wenn sie sagen, dass sie unschuldig sind, haben mir die meisten doch geglaubt. Ich weiß nicht warum. Ich glaube man merkt es, wenn man im Knast nicht die Wahrheit sagt. Sogar zu den Wärtern hatte ich ein sehr gutes Verhältnis. Da kann ich wirklich gar nichts negatives sagen. Klar, sie dürfen mir nicht alles gewähren. Aber auch sie haben einen gewissen Spielraum. Und den durfte ich nutzen. Viele sagten: Buen, ich glaube dir. Und das gibt dir Kraft in diesem Moment.“
Den Anwalt, den seine Familie in Tuttlingen kurz nach der Horrornacht aufsucht, macht den Nuhijis keine große Hoffnung. Auch für ihn ist klar, dass der 44-Jährige mit drin steckt. Albanischer Hintergrund, Indizien, belastbare Aussagen. Er kann und will nicht helfen.
In ihrer Verzweiflung nimmt Nuhijis Frau Kontakt mit Ingo Lenßen aus Bodman-Ludwigshafen auf. Zu Beginn ist auch der bekannte Rechtsanwalt aus dem Fernsehen skeptisch: „Ich habe die Geschichte gehört und mir gedacht, dass solche Fehler bei den Ermittlungen nicht passieren können. Aber ich gebe jedem eine Chance. Also bin ich hingefahren und habe mit Nuhiji gesprochen“, erzählt der Jurist mit markantem Schnurrbart dem SÜDKURIER in seinem Garten knapp zwei Jahre später.
Nach dem Kennenlernen ist alles anders. Ingo Lenßen glaubt dem vermeintlichen Kopf der deutschlandweiten Drogenbande. Warum? „Ich habe so viel Erfahrung. Irgendwann sieht man es den Menschen an, wenn sie lügen. Und dieser Mann saß zu Unrecht hinter Gittern.“

Lenßen wälzt die Ermittlungsakten, immer auf der Suche nach Beweisen für Nuhijis Unschuld. Der Anwalt ist überrascht. Objektiv belastbare Indizien gibt es gegen seinen Mandanten gar nicht. Nur die Aussagen eines V-Mannes, dem die Polizei seine Geschichte ohne zu zweifeln, abkauft. „In dem Moment wurde mir langsam klar, welcher Fehler hier gemacht wurde. Die Ermittlungen stützten sich nur auf diese eine Person, über dessen Hintergrund nur sehr wenig bekannt war“, sagt Lenßen.
Seine Skepsis erhärtet sich in 19 Prozesstagen im Rottweiler Landgericht. Unzählige Zeugen sagen aus, darunter auch der V-Mann. Obwohl er vorgab Bulgare zu sein, spricht er vor Gericht nur bruchstückhaft die vermeintliche Muttersprache. Das bestätigte der vom Gericht bestellte Übersetzer.
Bei seiner belastbaren Geschichte über Buen Nuhiji verstrickt sich der V-Mann auch noch in Widersprüchen. Er behauptet zum Beispiel in Nuhijis Wohnung gewesen zu sein und dort Drogen sowie Waffen gesehen zu habe, obwohl er – wie sich später herausstellen wird – nie dort war. Sein Kartenhaus fällt endgültig zusammen, als er vor Gericht die Einrichtung von Nuhijis Wohnung beschreibt. Keine Angabe deckt sich nur ansatzweise mit dem echten Mobiliar. Warum das nicht schon der Polizei während der Ermittlungen auffiel, ist bis heute ungeklärt.
Kurz bevor Buen Nuhiji nach 360 Tagen in Untersuchungshaft frei kommt, legt sich der Nebel. Der V-Mann hatte einen falschen Namen, eine falsche Identität, war untergetaucht und wollte in Deutschland neu anfangen. Denn eigentlich wurde der Mann mit internationalem Haftbefehl gesucht. „Buen Nuhijis Geschichte ist etwas ganz Besonderes – leider besonders schrecklich. Ich habe so etwas in meiner Laufbahn noch nie erlebt“, sagt Lenßen. Für Nuhiji wurde der Prozess zur Befreiung, in vielerlei Hinsicht.
„Während der Verhandlungen habe ich immer an meinen Anwalt geglaubt. Er war überzeugt von mir und meiner Unschuld. Das gab mir Kraft. Am Ende hatte ich aber auch ein bisschen Glück. Als der Richter merkte, dass der V-Mann log, war ich einfach nur glücklich. Ich war der glücklichste Mensch der Welt, als ich aus dem Gefängnis frei kam.“
Auch Nuhijis Arbeitgeber war immer von seiner Unschuld überzeugt und kündigte dem 44-Jährigen nicht. Das Gehalt blieb trotzdem aus. Lenßen klagte beim Land Schadensersatz wegen fehlender Einnahmen ein – und bekam recht. 55.000 Euro Gehaltsausgleich sind mittlerweile auf Nuhijis Konto eingegangen.
Dem gebürtigen Albaner steht auch noch eine Haftentschädigung zu: 25 Euro pro Tag hinter Gitter sieht das Gesetz in solchen Fällen vor. Also insgesamt 9000 Euro. Eigentlich. „Für Kost und Logis werden ihm sechs Euro und 15 Cent pro Tag abgezogen. Das ist eine Unverschämtheit!“, so Rechtsanwalt Ingo Lenßen. Nuhiji kommt insgesamt nur auf rund 7000 Euro – für ein Jahr Unfreiheit.
Wie kann das sein? Robin Schray vom Landesjustizministerium sagt: Grundsätzlich sei es möglich, dass Teile dieser 25 Euro einbehalten werden, „wenn es etwa einen Verstoß gegen Schadensminderungspflichten gab.“ Aber: „Ich bitte um Verständnis, dass ich mich zu diesem ganz konkreten Fall, solange mir dazu lediglich Teilinformationen vorliegen, auf die Schnelle nicht äußern kann.“
Im Fall Nuhiji ist es Ingo Lenßen zufolge so: Weil der Rechtsanwalt das entgangene Gehalt einklagte und Buen Nuhiji nicht arbeitslos gemeldet war, behält das Land einen Teil der 25 Euro ein – obwohl kein Gehalt floss. Wenn dem 44-Jährigen gekündigt worden wäre, hätte Nuhiji Anspruch auf die vollen 25 Euro Haftentschädigung geltend machen können. „Ich finde das geht gar nicht. Und ich muss gestehen: das war für mich auch neu. Das habe ich in diesem Verfahren gelernt“, so Lenßen.
Doch wütend auf die Justiz ist Buen Nuhiji trotzdem nicht. Der leitende Staatsanwalt hat sich bei ihm nach dem Prozess mit gesenktem Kopf entschuldigt. Die Polizei verzichtete darauf bis heute.
„Ja, das hat mich lange beschäftigt. Aber ich stehe jeden Morgen glücklich auf und danke Gott dafür, dass ich in Freiheit leben darf. Ich bin bei meiner Familie. Was brauche ich mehr?“