Herr Minister, die Grünen im Bund müssen in die Opposition, vorher ist aber noch ihre Zustimmung zu den viele hundert Milliarden schweren Sondervermögen für Investitionen und Bundeswehr gefragt. Wie entscheiden Sie sich?

Cem Özdemir: Massive Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur sind notwendig. Allerdings nicht für konsumtive Ausgaben, sondern echte Zukunftsinvestitionen. Strukturreformen bleiben notwendig – sonst werden die Milliarden einfach vervespert, ohne dass unser Land wettbewerbsfähiger wird und auch unsere Kinder was davon haben.

Wir wissen um die Verantwortung für das Land und wir werden es anders machen als die Union in der Opposition, die uns beim Bundesverfassungsgericht verklagt hat wegen 60 Milliarden Euro, um jetzt 500 Milliarden Schulden für Infrastruktur plus weitere für Verteidigung aufzunehmen.

Ich bin schon etwas erstaunt darüber, dass der künftige Bundeskanzler Friedrich Merz als Begründung angibt, dass er jetzt erst verstanden hat, dass US-Präsident Donald Trump nicht Mutter Teresa ist. Wo war der Mann gestern? Jeder konnte wissen, wohin es geht. Denn eins muss man Trump lassen: Er hält seine irren Wahlversprechen.

Wie verfolgen Sie die Ereignisse in den USA?

Özdemir: Ich bin erschrocken, wie schlecht viele bei uns vorbereitet sind. Trump jedenfalls war bestens vorbereitet, Elon Musk verfolgt seine Agenda ohne jeden Skrupel. Ich rate jedem, mal die Podcasts von Steve Bannon zu hören oder sich mit den Büchern zu beschäftigen, die bei Trump auf dem Nachttisch lagen. Ich rate uns allen, den Säuselton abzulegen. Auch den Kollegen der Union, die hoffen, wenn wir nett seien zu Trump, sei er auch nett zu uns. Das ist Blödsinn. Die einzige Sprache, die Trump versteht, ist die Sprache der eigenen Stärke.

Ihre Parteifreunde Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Finanzminister Danyal Bayaz sehen in der Rüstungsindustrie eine Chance für die wirtschaftliche Zukunft Baden-Württembergs. Sie auch?

Özdemir: Ja, ich sehe eine große Chance in der modernen Verteidigungswirtschaft, auch zur Abfederung des Strukturwandels in Sachen Arbeitsplätze. Denn wir sind Industriestandort und wollen es bleiben. Die Fertigkeiten aus der Automobilindustrie sind in der Verteidigungswirtschaft ebenso gefragt. Wir haben allein vier Fraunhofer-Institute im Land, die sich mit Verteidigungstechnologie beschäftigen. Dazu eine starke Luft- und Raumfahrtbranche. Wir müssen diese Kräfte im Land bündeln.

Dazu kommt: Wo bekommen wir etwa künftig unsere Informationen her, wenn uns die USA den Zugang verwehren? Aktuell kommen in der Nato 76 Prozent dieser Informationen aus den USA und ein Prozent aus Deutschland. Ohne Starlink, GPS und die vielen Aufklärungsdaten sind wir in Europa militärisch wie zivil blind und orientierungslos. Wenn wir daher über Verteidigungsfähigkeit sprechen, müssen wir also auch über Nachrichtendienste, Satellitentechnik oder Chiptechnologie sprechen – da höre ich von CDU/CSU leider gar nichts.

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Die Grünen haben lang selbst eine pazifistische Grundströmung bedient. Bis heute gilt die Zivilklausel für Hochschulen in Baden-Württemberg, ein grünes Projekt. Rüstung war doch von Übel, Rüstungsforschung erst recht.

Özdemir: Die Zivilklausel ist eine Selbstverpflichtung, die sich manche Unis gegeben haben. In Baden-Württemberg sind das nur wenige. Sie hindert übrigens keinen Forscher daran, mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten. Wichtig ist, dass wir die starken Forscher und Unternehmer, die wir auf dem Feld haben, vernetzen. Und zu den Grünen: Wir waren die Ersten, die den Schalter umgelegt haben. Die verstanden haben, dass man Probleme mit Putin nicht bei Kaffee und Kuchen löst, sondern indem man sich zum Beispiel beim Gas unabhängig macht. Wir waren entschieden gegen den Bau von Nord Stream II.

Ich gehöre zu denjenigen, die sagen: Der Krieg gegen die Ukraine hat schon vor elf Jahren begonnen. Und vorher hat Putin in Tschetschenien, in Belarus, in Georgien längst sein wahres Gesicht gezeigt. Da war in Deutschland sehr viel außenpolitische und sicherheitspolitische Naivität im Spiel. Ich persönlich bin seit dem Bosnienkrieg in dieser Frage glasklar aufgestellt. Zu Entschlossenheit gehört alles: Diplomatie, europäische Einigkeit, militärische Mittel. Nichts davon kann man vom Tisch nehmen.

Wohin soll denn die Richtung gehen: weiter bürgerlich links der Mitte oder strammer nach links?

Özdemir: Es gibt schon eine Linkspartei. Wir sind in der Mitte der Gesellschaft verortet, sitzen im Bundestag bewusst in der Mitte des Parlaments. Da gehören wir auch hin. Wir haben übrigens in beide Richtungen etwa gleich viele Wähler verloren, an die Linkspartei wie an die CDU und die AfD. Wir müssen den Austausch mit jungen Menschen stärken.

Gleichzeitig müssen wir Menschen zurückgewinnen, die unsere Positionen bei Ökologie und Gesellschaftsbild teilen, sich aber Sorgen um die Sicherheit in unserem Land oder um ihren Arbeitsplatz machen. Baden-Württemberg zeigt: Wir sind gut damit gefahren, uns der Gesellschaft in der Breite zuzuwenden und nicht nur bestimmten Gruppen. Unser Kurs muss sein: Pragmatismus und einen klaren Wertekompass verbinden.

Sie haben erklärt, sich um die Grünen-Spitzenkandidatur für die Landtagswahl 2026 zu bewerben. Sie sind noch eine kurze Zeit Bundesminister, dann eine Art freischwebender Wahlkämpfer ohne Amt und Mandat. Wie machen Sie das?

Özdemir: Ich habe einen Fahrschein nach Baden-Württemberg ohne Rückfahrkarte gelöst. Ich freue mich drauf, bis dahin habe ich aber noch viel zu tun. Ich möchte die beiden Bundesministerien so übergeben, wie ich sie gerne vorgefunden hätte. Und erst einmal muss die Partei mich als Ministerpräsidenten-Kandidat nominieren.

Ich sehe es als meine Verantwortung an, mich intensiv auf mein Ziel vorzubereiten. Ich will mir Zeit nehmen für das Land und seine Menschen, zuhören, neugierig sein. Mein Anspruch: Niemand muss zu den Fanatikern gehen, wenn er seine Sorgen, seine Botschaften an die Politik bringen will. Meine Ohren sind sehr weit offen. Ich will zeigen: Demokraten können Probleme ­lösen. Dafür sind wir da.

Die Redakteure Jens Schmitz (l.), Axel Habermehl (v.r.), Ulrike Bäuerlein und Theo Westermann im Gespräch mit Cem Özdemir im Stuttgarter ...
Die Redakteure Jens Schmitz (l.), Axel Habermehl (v.r.), Ulrike Bäuerlein und Theo Westermann im Gespräch mit Cem Özdemir im Stuttgarter Landesbüro. | Bild: Ferdinando Iannone

Für die CDU wird aller Voraussicht nach Parteichef Manuel Hagel ins Rennen ­gehen. Was können Sie besser als er?

Özdemir: Ich weiß nicht, ob er schon mal Handballtorwart war. Eine gewisse Robustheit bringe ich also mit. Aber vor allem lernt man im Handball Fair Play. Demokratische Mitbewerber sind keine Feinde, sondern es sind Mitbewerber. Wir sollten im Wahlkampf so übereinander reden, dass wir uns nach der Wahl auch noch vernünftig ins ­Gesicht schauen können.

Was können Sie besser als Winfried Kretschmann?

Özdemir: Winfried Kretschmann gilt es zu kapieren, nicht zu kopieren. Er hat in wunderbarer Art und Weise etwas gemacht, wofür ich auch stehe: widerstrebende Interessen und Perspektiven zusammenbringen, alle Akteure an den Tisch holen, auf Ausgleich setzen. Ich glaube, dass wir diesen Politikstil in der heutigen Zeit noch mehr brauchen als in der Vergangenheit.

Erlauben Sie uns ein paar Kompetenz-Stichproben nach Ihrer langen Berlin-Phase. Waren Sie schon mal im Nationalpark Schwarzwald, den Ihre Partei vorangetrieben hat?

Özdemir: Selbstverständlich.

Wie geht es den Felchen im Bodensee?

Özdemir: Den Felchen im Bodensee geht‘s nicht so gut, weil wir auf der anderen Seite eine gute Nachricht haben, was die Eutrophierung angeht: Der Nährstoffeintrag durch den Menschen nimmt ab. So widersprüchlich ist es manchmal.

Und wo schmecken die Brezeln am ­besten?

Özdemir: Jetzt bin ich natürlich Bad Uracher und kenne die Geschichte vom Frieder, der damals zum Tode verurteilt wurde und ein Gebäck erfinden musste, durch das die Sonne dreimal scheint. Das hat er tatsächlich im Morgengrauen geschafft, und es ist die Brezel.

Aber ich kenne natürlich auch die Geschichte, die unter anderem aus dem badischen und kurpfälzischen Landesteil rührt, dass sie eigentlich aus den Klöstern kommt und die damalige Gebetshaltung imitiert, mit verschränkten Armen und Händen auf den Schultern. Jedenfalls haben wir in Baden-Württemberg ganz sicher zur Entstehung und Verbreitung der Brezel wesentlich beigetragen.

Cem Özdemir beim Interview mit den Stuttgarter Korrespondenten.
Cem Özdemir beim Interview mit den Stuttgarter Korrespondenten. | Bild: Ferdinando Iannone

Sie haben im Sommer Ihre neue Partnerin vorgestellt. Wie schwierig ist es denn, als Bundesminister eine neue Partnerin zu gewinnen, wenn man auch noch Ministerpräsident werden möchte?

Özdemir (lacht): Ja, also der Freizeitanteil ist jetzt natürlich nicht ganz so ausgeprägt.

Weiß sie, dass sie gegebenenfalls dann hier First Lady wird?

Özdemir: Sie weiß, welche Aufgabe ich mir vorgenommen habe und was das mit sich bringt. Aber ob ich Ministerpräsident werde, das entscheiden allein die Bürgerinnen und Bürger.

Sie haben gesagt, Sie haben keine Rückfahrkarte gebucht. Was ist denn Plan B für den Fall einer Niederlage?

Özdemir: Der Plan ist, Ministerpräsident zu werden. Bis dahin fighte ich mit allem, was ich kann, und freue mich auf die von meiner Seite aus faire Auseinandersetzung.

Als Ministerpräsident wären Sie mehr fürs große Ganze zuständig als für Ressortfragen. Kretschmanns zentrales Thema war die Politik des Gehörtwerdens und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Was könnte Ihr Thema sein?

Özdemir: Im Zentrum steht das Thema Wettbewerbsfähigkeit, wie generieren wir den Wohlstand von morgen? Unser Mittelstand, unsere Weltmarktführer wissen, was sie tun. Aber sie brauchen einen verlässlichen Rahmen, damit wir neue Geschäftsmodelle entwickeln können in der Automobilbranche etwa bei der Batterietechnologie, beim autonomen Fahren oder bei Software und Chiptechnologie. Als Bundesforschungsminister sage ich mit Stolz: Baden-Württemberg ist die Forschungs- und Entwicklungsabteilung Deutschlands.

Das gilt auch bei Zukunftsfeldern wie Gesundheitswirtschaft, Quantentechnologie oder der Künstlichen Intelligenz. Und mit Blick auf unsere DNA als Gründerland kommt hinzu: Wir müssen Wege finden, wie wir Wagniskapital heben und privaten Investoren mehr Anreize geben. Mit der Brille des Bundeslandwirtschaftsministers ist mir wichtig: Die großen Herausforderungen wie beim Klimaschutz, der Energiewende, dem Erhalt der Daseinsvorsorge werden im ländlichen Raum entschieden. Da haben wir eine große Aufgabe, etwa, wenn ich die hohen AfD-Wahlergebnisse im ländlichen Raum sehe.

Und was wäre da Ihre Antwort?

Özdemir: An erster Stelle eine gute Infrastruktur. Ein ganz wichtiges Thema sind Betriebsnachfolgen, die wir erleichtern müssen. Denn gerade die Handwerksbetriebe im ländlichen Raum sind ein wirtschaftlicher und sozialer Anker. Der droht durch den demografischen Wandel etwas wegzubrechen.