Auch am Tag danach regnet es in Zell, einem Ortsteil der Kleinstadt Riedlingen. Wasser tropft auf die Böschung oberhalb der Gleise, auf denen am Sonntagabend kurz nach 18 Uhr ein Regionalzug entgleiste. Drei Menschen kamen ums Leben – der Lokführer, ein Bahn-Auszubildender und eine 70-jährige Frau. 41 weitere Menschen wurden verletzt. Fast jeder zweite der rund 100 Fahrgäste auf dem Weg Richtung Ulm.

In dem Zelt lagern noch Fahrräder, die aus dem Zug geschleudert wurden. Hinter dem Polizeiwagen liegt das Dach des Fahrradabteils.
In dem Zelt lagern noch Fahrräder, die aus dem Zug geschleudert wurden. Hinter dem Polizeiwagen liegt das Dach des Fahrradabteils. | Bild: Pascal Durain

Die Spuren der Katastrophe sind unübersehbar: An einer ruhigen Seitenstraße stapeln sich Trümmer aus dem Zuginneren, das Dach eines Fahrradabteils liegt abseits vom Gleis – Blutspuren sind daran noch erkennbar. Es liegt wie ein Mahnmal zwischen Straße und Gleis, es hatte eine Schneise in das Gestrüpp geschnitten. Der erste Waggon schob sich also die Böschung hoch und prallte gegen einen Baum – die Front wurde abgerissen.

Die Trümmer des Zuges liegen verstreut neben der Strecke. Die Einsatzkräfte haben sie aus dem Weg geräumt, um den Zug mit einem Kran ...
Die Trümmer des Zuges liegen verstreut neben der Strecke. Die Einsatzkräfte haben sie aus dem Weg geräumt, um den Zug mit einem Kran bergen zu können. | Bild: Pascal Durain

Unweit davon steht noch ein Zelt, das die Polizei als Sammelstelle für die Passagiere eingerichtet hatte. Die Fahrräder aus dem Abteil stehen noch dort im Trockenen. Teile des Führerhauses liegen dagegen auf einer Wiese, während in der Ferne Kühe weiden. Wenige Meter weiter unten stehen die Waggons verkeilt ineinander.

Der verunglückte Zug.
Der verunglückte Zug. | Bild: Pascal Durain

Auf der Brücke am Ortsrand sammeln sich Kamerateams und Schaulustige. Immer wieder bleiben Radfahrer stehen, machen Fotos, fahren weiter.

„Man ist sprachlos“

Die Polizei ließ die Presse am Montag nahe an die Unfallstelle. Die Ermittlungen laufen. Der Fahrtenschreiber konnte zunächst nicht geborgen werden, sagte Polizeisprecher Sven Vrancken vom Präsidium Ulm.

Eine Sprecherin der Deutschen Bahn erklärte, dass die Bergung der ineinander geschobenen Waggons Vorrang habe. Erst danach könne man die Schäden an der Strecke bewerten. Das werde wahrscheinlich noch bis Dienstagmorgen andauern.

Anwohner Josef Ebe wohnt oberhalb des Hanges, wo die sich Erde löste und auf die Gleise fiel. Er sei sprachlos angesichts des Unglücks, ...
Anwohner Josef Ebe wohnt oberhalb des Hanges, wo die sich Erde löste und auf die Gleise fiel. Er sei sprachlos angesichts des Unglücks, sagt er dem SÜDKURIER. | Bild: Pascal Durain

Josef Ebe wohnt mit seiner Familie direkt oberhalb des Hangs, von dem sich der Erdrutsch löste. Als das Unglück geschah, saß er vor dem Fernseher und sah Fußball. Die ersten Bilder vom Unfall erfuhr er aus dem TV. „Man ist sprachlos“, sagt der 80-Jährige. Sein Sohn und seine Tochter waren unter den ersten Helfern. Heute lässt Ebe Einsatzfahrzeuge auf seinem Grundstück parken, an der Unglücksstelle brauchte man seine Hilfe nicht mehr.

Zwischen Einsatz und Ohnmacht

Jessica Bellgardt und ihre Kollegen Benny und Simone vom Bowlingcenter Riedlingen bringen den Einsatzkräften Pizza.
Jessica Bellgardt und ihre Kollegen Benny und Simone vom Bowlingcenter Riedlingen bringen den Einsatzkräften Pizza. | Bild: Durain

Riedlingen ist seit Sonntagabend Schauplatz internationaler Aufmerksamkeit. Die Brücke am Ortsende ist zum Beobachtungspunkt geworden. Hierher kam auch Jessica Bellgardt vom Bowlingcenter Riedlingen mit ihren zwei Kollegen. Alle drei haben Kartons voller Pizzen im Arm. Sie arbeiten im Bowlingcenter Riedlingen. „Am Samstag war noch das THW bei uns“, erzählt Bellgardt. Nun wollten sie helfen, „wenigstens mit Essen“. Denn viele Einsatzkräfte stehen seit Stunden in Regen und Kälte.

Abseits steht ein junger Mann – Peter, Name geändert – und blickt auf die Unglücksstelle. „Das ist so surreal“, sagt er leise. Peter ist angehender Lokführer. Den Zug, der jetzt „ein großer Haufen kaltgeformtes Blech“ ist, kennt er gut. „Zwei Mal 114 Tonnen“. Er war am Sonntag in Ulm unterwegs und hätte später in den Unglückszug steigen sollen, hätte es keinen Erdrutsch gegeben.

Das Dach des Fahrradabteils liegt oberhalb der Gleise.
Das Dach des Fahrradabteils liegt oberhalb der Gleise. | Bild: Pascal Durain

Doch der Zug fuhr nicht mehr. Peter sagt, er sei nicht gekommen, um zu gaffen. Er wolle verstehen und verarbeiten. Dass Peter künftig an dieses Unglück denkt, wenn er diese Strecke befährt, steht für ihn fest. Den Beruf aufgeben – das will er aber nicht.

Den verstorbenen Lokführer kannte er vom Sehen. Aus der Einsatzstelle Villingen, sagt man. Die Bahn bestätigt auf Anfrage nicht. Details zu den Verstorbenen kommuniziere man grundsätzlich nicht.

„Ich hab ihn sofort angerufen. Aber die Vorstellung...“

Auch Shukrije Rexhepi aus dem Nachbarort Bechingen ist am Montag wieder vor Ort. Mit ihrem Freund steht sie an der Brücke. „Wir haben einen lauten Knall gehört“, sagt sie. Sie fuhren zur Unfallstelle, wollten helfen, vielleicht den Notruf wählen – doch Polizei und Rettungskräfte waren bereits da. „Wir konnten nichts tun“, sagt sie und ringt mit den Tränen.

Shukrije Rexhepi kam am Montag erneut zur Unglücksstelle, um sich ein Bild zu machen.
Shukrije Rexhepi kam am Montag erneut zur Unglücksstelle, um sich ein Bild zu machen. | Bild: Durain

Ihr Sohn fährt täglich diese Strecke, von Riedlingen nach Ehingen. Am Sonntag war er nicht im Zug. „Ich hab ihn sofort angerufen. Aber die Vorstellung...“ sie bricht ab. Ihr Sohn blieb am Montag zu Hause. Zu sehr habe ihn die Angst belastet. „Heute Nacht hab ich nicht geschlafen.“ Auch sie hat noch die Hilferufe der Menschen in den Waggons gehört.

Riedlingens Bürgermeister Marcus Schafft zeigt sich am Telefon ebenso betroffen. Er war bis tief in die Nacht an der Einsatzstelle, „bis 2.30 Uhr“, wie er sagt. „Ich bin froh über alle, die geholfen haben“. Rund 700 Einsatzkräfte waren im Einsatz, denen gelte sein besonderer Dank. Auch im Rathaus war man betroffen: Dort hängt Trauerflor, im Gemeinderat soll am Abend eine Schweigeminute abgehalten werden. „Wir sind in Gedanken bei den Angehörigen“, sagt Schafft. „Das nimmt uns alle mit.“

Ein Erdrutsch als Auslöser

Nach ersten Erkenntnissen von Polizei und Staatsanwaltschaft war ein überlaufender Abwasserschacht Ursache für den Hangrutsch. Durch starken Regen sei das Erdreich ins Rutschen geraten. Laut Deutschem Wetterdienst fielen in der Region bis zu 50 Liter pro Quadratmeter innerhalb einer Stunde. Der betroffene Zug, ein RE 55 auf dem Weg von Sigmaringen nach Ulm, entgleiste. Er war nach ersten Ermittlungsergebnissen mit rund 80 Stundenkilometern unterwegs.

Am Nachmittag begann die Bergung der Waggons.
Am Nachmittag begann die Bergung der Waggons. | Bild: Karl-Josef Hildenbrand

Am Nachmittag begann die Bahn mit der Bergung der Waggons. Ein Spezialkran ist im Einsatz. Wie lange die Strecke zwischen Riedlingen und Ehingen gesperrt bleiben wird, ist unklar. Ein geologisches Gutachten wurde beauftragt.

Die Anteilnahme aus Politik und Bahnspitze ist groß. Bahnchef Richard Lutz, der vor Ort um Fassung bemüht war, sprach von Bildern, „die uns ins Mark gehen“. Verkehrsminister Patrick Schnieder nannte das Unglück „erschütternd“. Man könne die Kraft der Verheerung noch sehen, die hier gewütet hat, sagte er am Morgen.

„Mittrauern, mitfühlen“

Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann dankte den Rettungskräften, die sehr schnell am Einsatzort gewesen seien und unter schwierigen Bedingungen Verletzte aus dem Zug gerettet hätten. Seine Gedanken seien bei den Angehörigen der Opfer: „Wichtig ist, dass wir heute mit allen, die davon betroffen sind, mittrauern, mitfühlen und einfach mitgehen mit dem schweren Schicksal, das sie erlitten haben.“

Es ist nicht das erste Ereignis dieser Art: Erst im Juni 2024 entgleisten bei Schwäbisch Gmünd zwei Waggons eines ICE mit 185 Passagieren an Bord nach einem Erdrutsch. Nach damaligen Angaben wurde jedoch niemand verletzt.