Wie kann man in einer rauer werdenden Gesellschaft die Menschen wieder näher zusammenbringen? Was braucht es, um starre Positionen aufzuweichen? Diese Fragen ließen Andrea Fink-Fauser (63) keine Ruhe.
Die Bibel gab ihr die Antwort. „Jesus hat viel mit Menschen gegessen, und dabei ist viel passiert“, sagt sie und verweist auf die Geschichte des Zöllners Zachäus, der vom Halsabschneider zum Wohltäter wird.
Das Gleichnis hat es der Singener Lutherpfarrerin angetan. Durch Gespräche beim Essen unterschiedliche Menschen zum Austausch zu bewegen, vielleicht sogar zu einem Richtungswechsel anzuregen, kann gelingen. Wo, wenn nicht in einer Kirche, ist der richtige Ort dafür? Die Idee, eine Vesperkirche in Singen zu etablieren, stieß bei den ökumenischen Partnern auf große Resonanz. So war die Vesperkirche von Anfang an ein Gemeinschaftsprojekt.
28 Standorte in Württemberg
Andrea Fink-Fauser hatte das Konzept in anderen Gemeinden kennengelernt. „Die Region Württemberg ist mit 28 Standorten das Kernland der Vesperkirchen“, so die Pfarrerin. Mittagstische, Tafeln und Vesperkirchen böten Hilfe für Leib und Seele, verspricht die Evangelische Landeskirche.
Im badischen Landesteil ist das Angebot deutlich geringer. Hier haben sich bisher nur vier Vesperkirchen etabliert. Eine davon gibt es seit 2016 jeweils im Januar in Singen. Dafür räumt die Pfarrerin ihre Kirche aus und verwandelt sie in einen großen Speisesaal.
Großer Helferpool steht bereit
Was sich so locker beschreiben lässt, ist in Wirklichkeit mit viel Arbeit und noch mehr Helfern verbunden. Ein Meisterwerk an Koordination, wie die Pfarrerin nicht müde wird zu betonen.
Als sie ihre Idee Udo Engelhardt, dem ersten Vorstand der Singener Tafel, unterbreitete, rannte sie bei ihm offene Türen ein. Auch ihm war das Miteinander der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen schon immer ein großes Anliegen.
Es geht nicht allein ums Essen
Engelhardt hatte Vesperkirchen besucht und wusste: Da sitzt der Bankdirektor neben der Sozialhilfeempfängerin, die Verwaltungsangestellte neben der Pflegekraft.
Es geht nicht alleine ums Essen, sondern um die Begegnung und damit um Bleibendes, um Zukunft. „Bei so einem Austausch auf Augenhöhe wird etwas von der Menschlichkeit Gottes spürbar“, sagt die Theologin.
Am gedeckten Tisch sei die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, am Gegenüber Anteil zu nehmen, größer. Helfer sorgen dafür, dass die Gäste sich willkommen fühlen. Es geht darum, jeden Einzelnen seine Würde spüren zu lassen.

15 Tage lang ist die Vesperkirche jeweils im Januar geöffnet. Mittlerweile zum achten Mal. Dahinter stecken hoher logistischer Aufwand, Heerscharen von Helfern und eine Vielzahl von Spenden. Die Planung beginnt jeweils im September. Unterstützung kommt von der Stadt, aus der Industrie, von Handwerksbetrieben, der Tafel und kirchlichen Verbänden.
Große Bereitschaft, sich zu beteiligen
Die Bereitschaft, sich zu beteiligen ist groß. Die Zahl der Gäste wächst kontinuierlich. Täglich sind es 300, an manchen Tagen sogar 340 Personen, die verköstigt werden. Ein festes Team aus 15 bis 18 Personen trifft die Entscheidungen.
„Dass so viele Menschen und Gruppen an diesem Projekt zusammenarbeiten, ist in Singen etwas ganz Besonderes“, so Andrea Fink-Fauser. Sie wäre nicht Pfarrerin, wenn sie nicht an die heilsame Wirkung dieser Begegnungen glauben würde.
Jeder Mahlzeit wird ein geistlicher Impuls vorangestellt. Er kann ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch sein. „Wir gehen davon aus, dass die Vesperkirche in Singen noch viele Jahre Bestand haben wird.“