Wie lange bleiben die Schulen noch geschlossen? Das fragen sich nicht nur viele Eltern, sondern auch vermehrt die Fachleute aus Pädagogik und Medizin. Einer davon ist der Arzt Andreas Böckmann. Der 55-Jährige wirkt seit mehr als zwei Jahrzehnten am Konstanzer Klinikum, seine Schwerpunkte liegen in der Arbeit mit Kindern mit Diabetes sowie in der Kinderpneumologie. Für den Facharzt steht fest: Schulen und Kindergärten sollten so früh wie möglich geöffnet werden, natürlich immer unter Berücksichtigung der aktuellen Gefährdungslage.
Seine Argumente für eine zeitige Öffnung sind gravierend, und er wundert sich jeden Tag mehr, warum bisher nur eine Minderheit der Entscheidungsträger von den Langzeitschäden hören wollen, die Corona bei labilen Kindern anrichtet.
Die Teenager kommen kaum aus dem Haus
Im Gespräch mit dem SÜDKURIER listet der besorgte Mediziner die Beobachtungen auf, die er seit etwa zehn Monaten macht. Böckmann hat einen guten Einblick. Durch die Arbeit in der Praxis und auf der Station stellt er zunehmend deutliche Veränderungen bei seinen jungen Patienten fest. Er führt sie auf die rigiden Verordnungen zurück, die er im Detail überwiegend für richtig hält. In der Summe aber bewirken sie, dass Schüler kaum mehr aus dem Haus kommen, da sie kaum einen triftigen Grund haben.

Noch etwas macht der drahtige Mediziner deutlich: Er spricht zwar als Kinderarzt, aber nicht für das Klinikum oder in dessen Auftrag. Er sei sich bewusst, dass alles, was mit der Pandemie zu tun hat, zwangsläufig ins Politische zieht. Er erzählt es als Fachmann und als Staatsbürger, der darin eine moralische Pflicht sieht. Wenn es um eine ganze Generation geht, dann könne seine Sorge keine Privatsache mehr sein.
Wenn Jugendliche zu wenig essen
Drei Krankheitsbilder und Muster fallen ihm aus nächster Nähe auf: Einige Jugendliche entwickeln massive Essstörungen, sie nehmen also zu wenig Nahrung zu sich. Am Konstanzer Klinikum sind sonst zwei Plätze für die Behandlung von Anorexie vorgesehen. Zur Zeit hat Böckmann fünf junge Menschen untergebracht, die an Magersucht leiden, die kleine Station steht also im Notmodus.
Die Ursachen für Anorexie sind psychischer Art. Denn die jungen Patientinnen (meistens sind es Mädchen) sehen sich durch die Pandemie völlig eingeengt. „Die soziale Isolation führt dazu, dass sie wichtige Kontakte nicht mehr pflegen können“, sagt der Mediziner.

Der gewohnte Rhythmus geht verloren
Die zweite Beobachtung: Böckmann behandelt regelmäßig etwa 100 junge Diabetiker. In der letzten Zeit fällt ihm auf, dass der Bio-Rhythmus seiner Patienten empfindlich gestört ist. Begonnen hat es mit dem ersten Lockdown. An den Blutzuckerwerten kann er dies genau ablesen. Wenn Nachts um 2 Uhr Spitzenwerte erreicht werden, weiß er, dass der junge Diabetiker erst spät ins Bett geht. Da die Schule ausfällt, muss der Schüler auch nicht früh aufstehen, er kann sich die Nächte um die Ohren hauen. Die Einstellung seiner Therapie passt deshalb nicht mehr. Die gewohnte Ordnung des Tages geht dem jungen Diabetiker verloren. Die Schüler sind dann verunsichert; ihr Körper gerät außer Kontrolle.

Isolation führt in die Depression
Und das Dritte: An einigen Jugendlichen beobachtet der Kinderarzt ausgeprägte Momente der Niedergeschlagenheit bis hin zur handfesten Depression. Das Eingesperrtsein erscheint den Kindern endlos und nicht als begrenzter Zeitraum mit Silberstreif am Horizont. Das könne bis zu suizidalen Gedanken gehen, sagt der Arzt.
Eisenmanns Vorstoß war mehr als Wahlkampf
Als Kultusministerin Susanne Eisenmann eine frühe Öffnung von Kitas und Schulen für Januar einforderte, schlug ihr Entrüstung entgegen. Einige Zeitgenossen stilisierten ihren Vorstoß als Trick im beginnenden Wahlkampf. Dabei hat Eisenmann die Mehrzahl des Lehrerzimmers hinter sich: Die meisten Pädagogen wollen eher heute als morgen zurück in die Schule. Pessimisten unter ihnen warnen bereits jetzt von einer „verlorenen Generation“, wenn nicht bald wieder die Kurve Richtung Normalität ziele. Dass Eisenmann Vorschlag so früh abgeschmettert wurde, erklärt Böckmann so: „Kinder haben keine richtige Lobby.“

„Depressive Symptomatik“ bereits bei Grundschülern
Böckmann vertritt damit keine Einzelmeinung. Die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Wiener Allgemeinen Krankenhauses (AKH) sei voll belegt mit jungen Menschen, die unter Essstörungen oder Depressionen leiden. Das berichtet AKH-Abteilungsleiter Paul Plener der „Kleinen Zeitung“ (Graz). Dabei seien nicht nur Teenager betroffen, ergänzt der Arzt. Auch in der Gruppe der Acht- bis Zwölfjährigen beobachte er eine „depressive Symptomatik“.
Lehrer bestätigen den Kinderarzt
Lehrkräfte bestätigen diese ungesunden Trends. Sie beobachten noch eine vierte Corona-Krankheit: Vor allem weibliche Teenager legen auffallend an Gewicht zu. Diese Schülerinnen bewegen sich kaum mehr. Ihr Aktionsradius beschränkt sich auf das Dreieck in der elterlichen Wohnung: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kühlschrank.
Der Bildschirm wird zum zentralen Medium für Unterricht und Unterhaltung, ein Flimmern ohne Ende. Für Kinder, die sich ohnehin selten bewegen, entfällt nun der Gang zum Bus oder zur Schule. Selbst minimale körperliche Anstrengungen entfallen – zum Schaden der Zöglinge. „Langsam geht meinen Schülern die Puste aus“, berichtet eine Lehrerin aus dem Kreis Konstanz.
Die soziale Schere klafft auseinander
Dabei hat diese fatale Entwicklung zwischen Laptop und Kinderzimmer eine starke soziale Komponente mit Langzeiteffekt: Sozial schwache Familien leiden stärker unter Corona und gesperrten Schulen als andere. Der Lockdown bedeutet für sie mehr als für andere Ausschluss von Bildung und den Dingen, die man später wissen müsste. „Die Schere geht auseinander“, sagt Böckmann. Familien mit gutem Bildungsstand und intakter Gesprächskultur können besser mit Corona umgehen als Eltern, die schon vor der Pandemie ihre Probleme hatten und jetzt zum Beispiel ohne Arbeit dastehen. Und die ihren Kindern kaum bei den Hausaufgaben helfen können.
Dann eben kein Mittagessen
Nicht nur Kindern fällt die Decke auf den Kopf. Auch Erwachsene legen sich ihre Strategien zurecht, um nicht schwerer zu werden. Was sagt der Kinderarzt dazu? „Ich habe mir angewöhnt, auf das Mittagessen zu verzichten“, berichtet Böckmann. Und greift zu einem Glas Wasser.