In Bescheidenheit ist er geübt. Schon 2015, als Marian Schreier zu Deutschlands jüngstem Bürgermeister in Tengen wurde, zeigte er sich als demütiger Sieger. Dabei holte der erst 25-Jährige mehr als zwei Drittel der Stimmen bei ebenso hoher Wahlbeteiligung.

Für ihn war Effizienz immer wichtiger als mediale Wirkung. Während seiner Amtszeit und auch jetzt, acht Jahre später, als das Land wieder auf den jungen Politiker schaut – und sich fragt, welchen Weg er nun gehen wird, da er den Hegau verlässt.

Obergeschoss des Rathauses: Marian Schreier hat einen Anschlusstermin. Kurz vor Ende seiner Amtszeit, kurz vor Ende des holprigen zweiten Wahlgangs in Tengen, muss der junge Bürgermeister noch einiges sortieren. Eine geordnete Übergabe sei ihm wichtig, sagt er, der gebürtige Stuttgarter, der öffentlich immer Anzug trägt, immer Hemd. Krawatte nur bei offiziellem Anlass.

Auf dem Schätzelemarkt 2022: Marian Schreier mit dem Rummelplatzplatz-Betreiber Heinz Gebauer.
Auf dem Schätzelemarkt 2022: Marian Schreier mit dem Rummelplatzplatz-Betreiber Heinz Gebauer. | Bild: Elisa-Madeleine Glöckner

Während sich in Tengen viel gewandelt hat, scheint er irgendwie gleich geblieben, trotz des Erfolgs und weniger Rückschläge. Die jugendlichen Züge vielleicht, die sind markanter geworden. Der Rest? Ein Politikertypus wie aus dem Bilderbuch. Besonders dann, wenn er Sätze sagt wie: „Was mich an der Kommunalpolitik gereizt hat und mich bis heute reizt, ist, dass man mit fast allen Fragen des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu tun hat.“

Und ja, für Schreier wird sein Abschied aus Tengen auch ein Abschied von der Kommunalpolitik sein, zumindest vorerst. Mit 33 Jahren, einem Alter, in dem viele Politiker überhaupt erst den Einstieg ins Metier finden.

Tengen war ihm bis dahin unbekannt

Als er kam, war er vieles, womit die Region in dieser Zeit wohl nicht gerechnet hatte. Jung, Sozialdemokrat, protestantisch im katholischen Süden. Auch wenn er sich immer hätte vorstellen können, sich um ein politisches Amt zu bewerben – den Weg nach Tengen, sagt er, habe er eher spontan gefunden. Ein guter Studienfreund hatte ihm demnach erzählt, dass die Gemeinde einen neuen Bürgermeister sucht.

Die Stadt kannte Schreier bis dahin nicht. Erste Eindrücke sammelte er beim Schätzelemarkt im Oktober 2014, weitere in Gesprächen, auch mit Kommunalpolitikern vor Ort. Dann entschied er sich zur Kandidatur.

Die Wahl war im März, im Februar wurde Schreier 25 – das Mindestalter, um sich in Baden-Württemberg zum hauptamtlichen Bürgermeister wählen zu lassen. Dazu muss man wissen: Schreier war einer, der immer durchdacht, immer professionell zu handeln schien, ohne aber langweilig zu sein. Bestehendes brachte er oft in eine neue Lesart. Seinen fünfwöchigen Turbo-Wahlkampf zum Beispiel.

Kandidat dachte Wahlkampf anders

Schreier experimentierte mit Formaten. Er veröffentlichte im Amtsblatt, organisierte Rundgänge, traf sich zu Stammtischen, führte ein digitales Wahlkampftagebuch. Er war präsent, stellte sich vor, in allen Ortsteilen der Stadt. „Das ist der Reiz der Kommunalpolitik, dass sie so unmittelbar ist.“ So forderte er Transparenz, Digitalisierung, E-Medizin, er entwickelte ein Zukunftsbild der Stadt, versprach eine Verwaltung auf Augenhöhe, solide Finanzen.

„Es ist akzeptiert, dass jemand von außen kommt, so lange man gewillt ist, sich die Stadt anzueignen“, erklärt der Sozialdemokrat. Und das wollte er. Schreier war gekommen, um das Tengen aus seiner Gemütlichkeit zu befreien – der amtierende Bürgermeister ging nach 42 Jahren.

Der junge Mann war zwar Mitglied der SPD, trat aber als parteiloser Kandidat an, ohne Unterstützung des Ortsvereins. Während ein CDU-naher Politikberater, Hauptkonkurrent, um die 50, hoch gehandelt, im ersten Wahlgang nur 28 Prozent der Stimmen bekamen, stimmten die Tengener mit 70,6 Prozent für den Außenseiter. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so deutlich wird“, sagt Schreier auch Jahre später.

Dass er schnell aufsteigen würde, kündigte sich allerdings an. Mit 19 begann der Stuttgarter sein Studium der Politik- und Verwaltungswissenschaften in Konstanz, mit 20 wurde er Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, zwei Jahre später ging er nach Oxford. Mit 23 wechselte er ins Berliner Büro von Peer Steinbrück. Der frühere Finanzminister erinnert sich so an den jungen Mann: „Sehr pfiffig, intelligent, nicht überheblich, politisch unkonventionell und deshalb erfolgreich.“

Gewohnt war Schreier bis dahin vor allem das Leben in Großstädten. Das hat ihn sicherlich viel gelehrt, aber nicht die Notwendigkeit, ein Auto zu fahren. Das habe er unterschätzt, resümiert er nüchtern. „Ich hatte mir vorgestellt, den Wahlkampf mit dem Fahrrad zu machen.“

Ein Winterwahlkampf im Januar und Februar, in einer Flächengemeinde von 62 Quadratkilometern. Den Führerschein, erzählt der Bürgermeister und wirkt dabei fast ein bisschen verlegen, habe er dann nachgeholt. Erst in Berlin, später im Hegau. Da setzte ihn das Fahrschulauto manchmal noch vor dem Rathaus ab.

Schreier brachte Energiewende voran

Er modernisierte Tengen. Schreier entwickelte eine Beteiligungsstruktur, weil er findet, dass Politik nicht nur auf die Verwaltung oder den Gemeinderat begrenzt sein sollte. Er brachte das erste genossenschaftliche Ärztehaus Süddeutschlands mit auf den Weg, als neuen Ansatz gegen den Ärztemangel auf dem Land. Der erste Windpark im Kreis Konstanz entstand, der zweite folgt gerade nach. Das Bürgerhaus ist digital, der Glasfaserausbau vorangetrieben.

Andreas Reinhardt (IG Hegauwind), Bene Müler (Solarcpmlex), Bürgermeister Marian Schreier, der Radolzeller OB Martin Staab, ...
Andreas Reinhardt (IG Hegauwind), Bene Müler (Solarcpmlex), Bürgermeister Marian Schreier, der Radolzeller OB Martin Staab, Bundestagsabgeordneter Andreas Jung, Regierungsrat Martin Kessler und Peter Sartena von der IG Hegauwind vor der Eröffnung des Windparks Verenafohren. | Bild: Tesche, Sabine

Zwischendrin kandidierte das SPD-Mitglied dann für den Sessel des Oberbürgermeisters in Stuttgart. Ohne jemanden zu fragen. Damit zog Schreier nicht nur großen Medienrummel auf sich, sondern vor allem den Zorn der Landes-SPD. Die Partei wollte ihn verhindern, Schreier trat trotzdem an. Als Überraschungskandidat erreichte er fast 37 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang. Gereicht hat es nicht, OB wurde Frank Nopper von der CDU.

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Also ging Schreier in den Hegau zurück. Natürlich waren auch hier nicht alle begeistert von seinem Antreten in der Landeshauptstadt. Der Großteil aber war stolz. Einige Gemeinderäte hatten dem jungen Politiker sogar beim Plakatieren in seiner Heimatstadt geholfen.

Missmut blieb dagegen in der SPD – offenbar aber auch nicht ewig. „Das Verhältnis ist geklärt“, sagt Marian Schreier heute. Er habe nach der Wahl mehrfach mit dem Landesvorsitzenden Andreas Stoch gesprochen. „Auf meiner Seite bleibt nichts zurück und ich denke, dass das beidseitig ist.“

Schreier zeigte laut Steinbrück Haltung

Peer Steinbrück findet jedenfalls, dass Schreier mit seiner Kandidatur richtig gefahren sei. Er habe deutlich gemacht, dass er erfolgreicher sein könne als der vom SPD-Establishment gesetzte Kandidat. „Und als er nach Tengen zurückgegangen ist, hat er kein großes Feuerwerk gemacht. Das zeigt seine Haltung.“

Schreier betont, dass es nicht so sei, dass er aus Tengen weg möchte, weil er unzufrieden ist. Im Gegenteil. „Acht Jahre sind lang. Das, wofür ich angetreten bin, haben wir gemeinsam umgesetzt – von der Entwicklung eines Leitbilds bis zu einer Verwaltung auf Augenhöhe. Für mich ist es jetzt ein guter Zeitpunkt, mich neuen Herausforderungen zu stellen.“

Schreier strebt Perspektivwechsel an

Ein Perspektivwechsel. Für ihn geht es deshalb im April in die Bundeshauptstadt, wo auch seine Partnerin lebt. Hier wird er Geschäftsführer für Politik und Kommunikation bei der Industrie- und Handelskammer Berlin. Warum der Schritt? „Meine Überzeugung ist, dass sich die allermeisten gesellschaftlichen Probleme – von der Eindämmung des Klimawandels bis zur Reform des öffentlichen Sektors – nicht mehr alleine durch Politik und Verwaltung lösen lassen. Es braucht das Wissen, die Fähigkeiten und Ressourcen von unterschiedlichen Akteuren.“

Tengen hat mittlerweile einen Nachfolger für Marian Schreier gefunden: Selcuk Gök ist im zweiten Wahlgang zum neuen Bürgermeister ...
Tengen hat mittlerweile einen Nachfolger für Marian Schreier gefunden: Selcuk Gök ist im zweiten Wahlgang zum neuen Bürgermeister gewählt worden. | Bild: Freißmann, Stephan

Die Wissenschaft, Verbände, die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft. Diese andere Seite möchte er nun kennenlernen – was nicht ausschließe, dass er irgendwann wieder zurückkehren könnte. „Ich kann mir künftig gut vorstellen, wieder für politische Ämter und Mandate zu kandidieren, auch kommunal.“

Vermissen, so viel steht fest, wird Marian Schreier einiges an Tengen. „Ich mag die Region sehr.“ Er gehe gerne joggen, raus in die Natur. „Und wenn man sich acht Jahre an einem Ort befindet, wächst einem die Stadt ans Herz.“ Fertig sei die Gemeinde ohnehin nicht. Stadtentwicklung, sagt der 33-Jährige, sei immer eine Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. Der neue Bürgermeister müsse seinen eigenen Stil und seinen eigenen Weg finden. Er dürfe keine Kopie von ihm sein, so wie er keine Kopie von seinem Vorgänger sein konnte. „Ich werde weiter verfolgen, was hier passiert.“