Hätte es die erste Viertelstunde nicht gegeben, hätte wohl keiner etwas bemerkt. Es wäre vielleicht gar niemandem aufgefallen, dass der 30-jährige Leiter der Sitzung gerade ein Jahr lang um die Stimmen der Stuttgarter Bürger für das Oberbürgermeisteramt gekämpft hat – und dabei auch noch überaus erfolgreich war: Tengens Bürgermeister Marian Schreier hat in der Schwabenmetropole nämlich beinahe 75.000 Stimmen eingefahren.

Zum Vergleich: In Tengen lebt noch nicht mal ein Zwanzigstel dieser Zahl an Wahlberechtigten. Während Schreier nun die erste Tengener Gemeinderatssitzung nach der Stuttgarter OB-Wahl leitet, schlottern die Besucher immer wieder. Denn alle zwanzig Minuten werden die Türen der Randenhalle geöffnet. Eventuelle Corona-Aerosole sollen durch die kalte Winterluft ausgetauscht werden.

Gemeinderäte würdigen Schreiers Erfolg

Aber es gab sie eben doch, die erste Viertelstunde dieser Sitzung. Bürgermeister-Stellvertreter Adelbert Zeller (Freie Wähler) ergriff das Wort für die Gemeinderäte. Er hob Schreiers Erfolg hervor und zeigte auf, dass Schreier in Tengen ähnlich angefangen habe wie beim Wahlkampf in Stuttgart.

Tengens Gemeinderat berät in der Randenhalle. Die Räte loben Schreiers OB-Wahlkampf.
Tengens Gemeinderat berät in der Randenhalle. Die Räte loben Schreiers OB-Wahlkampf. | Bild: Uli Zeller

In den Schlagzeilen rund um den Stuttgarter Wahlkampf wurde der Tengener Bürgermeister zu Beginn noch als „Hinterwäldler“ bezeichnet und zum Schluss als Vorbild für Wahlkampfstrategie hervorgehoben, wie Zeller zitierte. Schreier war als unabhängiger Kandidat mit SPD-Parteibuch angetreten, denn die Stuttgarter Sozialdemokraten unterstützten den Fraktionsvorsitzenden Martin Körner. Im ersten Wahlgang bekam Schreier trotz des Fehlens der SPD-Unterstützung mehr Stimmen als Körner, für den zweiten trat dieser nicht mehr an.

„Wieder gute Tengener Luft atmen“

Stadtrat Zeller ließ die erste Begegnung Revue passieren, die er mit Marian Schreier hatte. Vor knapp sechs Jahren habe sich der damals 24-Jährige Bewerber für das Amt des Tengener Bürgermeisters der Fraktion der Freien Wähler im Teilort Blumenfeld vorgestellt.

Was Schreier nun in Stuttgart geleistet habe, mache ihn bis weit über die Grenzen des Hegaus hinaus bekannt. „Sie haben in den letzten Wochen in Ihrem Urlaub viel gearbeitet. Jetzt können Sie wieder die gute Tengener Luft atmen“, fasste der Bürgermeisterstellvertreter des Luftkurortes zusammen. Viele Projekte habe Schreier in Tengen in die Wege geleitet, die jetzt fortgesetzt werden können. Zeller schloss mit den Worten: „Wir hoffen auf eine noch längere Zusammenarbeit.“

„Neues wagen, Dinge anpacken“

Bürgermeister Schreier räumte bei der Sitzung wenige Tage nach dem Wahltag ein: „Ich konnte die Ereignisse im Kopf noch gar nicht ordnen.“ Vieles jedoch von dem, was er in Stuttgart praktiziert habe, habe er in Tengen gelernt: „Phantasie haben, Neues wagen, Dinge anpacken.“

Als Beispiele nannte er die Bürgerbeteiligung rund um das Tengener Ärztehaus, den Leitbildprozess und die Windkraftanlagen in Tengen-Watterdingen. „Ich bin sehr gerne wieder hier“, betonte Schreier. Und eigentlich habe die Revolution nicht in Stuttgart-Hedelfingen begonnen, wie es in einem Artikel des Tagesspiegels über Schreiers Wahlkampf geheißen hatte. Sondern in Tengen-Blumenfeld.

Revolution hat in Blumenfeld begonnen

Schreier konnte sich noch gut dran erinnern, wie er sich im Tengener Teilort vorstellte: „Damals bin ich mit dem Fahrrad an einem kalten Wintertag von Tengen nach Blumenfeld gefahren.“ Ohne den Weg genau zu kennen, habe er sich den Weg über die Tengener Wirtschaftswege gebahnt.

Sein Fahrrad habe kein Licht gehabt, was ihm auf dem abschüssigen Weg von Tengen nach Blumenfeld Schwierigkeiten bereitete. Und es habe nur über drei Gänge verfügt – dies habe den Rückweg erschwert. So kam Schreier entgegen dem Tagesspiegel zum Fazit: „Die Revolution hat in Tengen-Blumenfeld begonnen.“

In diesen 15 Minuten gab‘s zweimal Applaus von Gemeinderäten und Besuchern. Dann konnte sich Schreier den Bauanträgen, der Kalkulation der Abfallgebühren und der neuen Photovoltaikanlage der Kläranlage zuwenden. Beinahe so, wie wenn nichts gewesen wäre.