„Jesses Gott“, entfährt es Ruth Müller, „Jesses Gott“. Mit diesem kräftigen Ausruf antwortet sie auf die Frage, warum sie den einzigartigen Job hier macht: Kleiderkammerverwalterin. Sie sitzt in einem prächtig verstreuten Büro in Bräunlingen, in dem es sympathisch unaufgeräumt aussieht.
Aufgeräumte Büros werden häufig von Langweilern oder von Menschen mit Putzfimmel bewohnt. Das kann man vom Büro der obersten Kämmerin nun nicht behaupten. Da liegt und steht so einiges herum.
Einige Fasnachtsmasken auf dem Tisch, eine altdeutsche Försteruniform am Kleiderbügel, ein alter Schreibtisch. Das ist das Reich, in dem Frau Müller einmal in der Woche ihres Amtes waltet und sauber aufschreibt, was aus dem Haus geht. In den handschriftlich geführten Listen stehen merkwürdige Stichworte: „Ein Römer, Größe M“ oder „Wallensteiner, Kindergröße.“
Das stoffliche Rüstzeug für den Umzug
Die 71-Jährige betreut eine der größten privaten und nicht kommerziellen Kleiderkammern im Land. Privatleute, Vereine, Narrengruppen holen sich hier das stoffliche Rüstzeug für einen historischen Umzug oder ein Theaterstück. Wenn es stimmt, dass Kleider Leute machen, dann macht das Häs aus dem biederen Zivilisten einen richtigen Narren oder eine Waschfrau.

Die Kleiderkammer mit etwa 4000 Stücken gehört der Narrenzunft Bräunlingen im Schwarzwald. Dem mit Jugend gesegneten Verein gehört auch das Haus – eines der mächtigsten Gebäude in diesem alten Städtle. Die Zunft erwarb das ehemalige städtische E-Werk in den 80er Jahren. Praktischerweise liegt es mitten im Ort, in Sichtweite der Kirche und der wichtigsten Kneipen.
Nur wenige Lichter brennen am Dienstagabend, wenn Ruth Müller ihre Bürostunde abhält. Immer dienstags. Sie schleppt an, kleidet ein, zupft an breiten und knochigen Schultern, holt verlorene Ärmel und tröstet die verlorenen Seelen, die fürchten, dass sie kein passendes Häs mehr finden.
Und sie erklärt, dass Fasnacht weder Halloween noch Kindergeburtstag sei. Das ist nämlich nicht allen klar, erfährt man hier. Die lebenskluge Frau macht nicht nur die Requisite, sie zupft mitunter auch angespannte Nervenkostüme zurecht.
Vor 18 Jahren wurde ihr diese Aufgabe anvertraut. Ruth Müller stammt aus Tannheim und heiratete später nach Bräunlingen. Sie kennt die Fasnacht, lebt damit. Sie gehört dazu. Die meisten Dörfer und Gemeinden im Schwarzwald-Baar-Kreis haben sich diesem Brauchtum verschrieben. Es geht ja nicht nur ums Umkleiden, sondern auch ums gute Bild. Narren sind seit jeher eitel. Aber wo anfangen?
Nicht jeder Mann sieht in Uniform wirklich adrett aus. Und nicht jedes Kind schlüpft ohne Zwang in einen groben Bauernkittel, der anders als das Zeug von Zara riecht. An langen Stangen und eng gehängt winken die textilen Kostbarkeiten, die schon viele Körper eingepackt haben.
„Römer haben wir viel“, Müller zwinkert, „und auch schöne Römerinnen“. Eine ganze Kompanie an Mannsbildern kann sie in die weiße Toga mit schräglaufender Schärpe stecken. Müller nimmt eine Toga am Bügel, in der schon mancher Mann geschwitzt haben mag: „Die könnte Ihnen auch passen.“
Die Badische Revolution von 1848 scheint dagegen nicht so beliebt zu sein. Einige Hecker-Hüte mit breiter Krempe liegen in der Auslage. Offenbar Ladenhüter.
Mittelalter ist gefragt
Reichhaltig ist die Auswahl an Uniformen aller Art. Breite Schultern mit Epauletten und schmaler Taille laufen immer. Männer spielen sich auch an Fasnacht gerne als Obrigkeit auf. Der Renner ist die Welt des Mittelalters. Klamotten und Kleinkram ohne Ende kann Müller zu dieser Epoche ausbreiten. Raue Hemden für die Männer, hübsche Mieder für Frauen. Kurze Kleider oder lange Kleider der Marke Burgfräulein. „Mittelalter ist sehr beliebt“, weiß sie.
Und wann immer ein Ort im südlichen Baden seine Gründung vor 700 oder mehr Jahren gebührend feiern will, wird ein historischer Festzug organisiert. Das Rüstzeug dafür liegt in der Kleiderkammer, wo die guten Stücke zu sozialverträglichen Preisen abgegeben werden. So wird eine brave Beamtin zur Gräfin aufgerüstet und der biedere Hausmann zum zackigen Müllerburschen.
Frau Müller macht es möglich. Sie ist die Regisseurin, die schon manchen unscheinbaren Menschen ins Römische Reich gebeamt hat.
„Männer kann man besser anziehen als Frauen“
Immer wieder kommen Härtefälle ins Haus. „Einmal hatte ich Damen da, die wollten es sehr offenherzig, also mit tiefem Ausschnitt. Zwei Stunden ließen sie mich rennen und ein Kostüm ums andere herausziehen, bis sie was fanden.“ Wochen später brachte die fidele Schar die Leihgaben zurück. Sie hatten die kurzen Kleidchen nie getragen, weil sie ihnen zu bieder erschienen.
Müller ist sich nach vielen Kostümproben sicher: „Männer kann man besser anziehen als Frauen. Sie lassen sich was sagen und hören auf meinen Rat.“

Sie überlegt kurz, dann fällt ihr doch der vertrackte Fall eines Männleins ein, das mit keinem Fetzen zufrieden war, den ihm die Kämmerin aus den Tiefen des Magazins an den Leib hielt. „Der war ziemlich eitel.“ Erst waren die Hosen zu kurz, dann trat der Bauch zu sehr hervor, wie er meinte. Er hatte die Bestände der Kleiderkammer mit Pariser Maßkonfektion verwechselt.
Aber sonst hat es die Kostümdirektorin gut. Männer seien fügsamer, sie verlassen sich auf das gute scharfe Auge der Kämmerin. Denn in diesem Punkt macht ihr keiner was vor: „Ich will jedem das geben, was zum passt.“ Man muss sich nur auf diese Frau verlassen.
Ein Römer in Rosa
Übrigens schärft sie den Trägern ein: „Geben Sie mir die Kleidung gereinigt zurück.“ Manche verstehen das falsch. In einer langen Reihe mit weißen Togen hängt eine rosa Toga. Rosa! „Der Benutzer hat die Toga in eine Maschine zusammen mit anderer Buntwäsche gesteckt.“ Jetzt ist das gute Stück also verdorben. Ausleihen kann man es trotzdem. Ein rosa Römer.
Für die Leihe werden 30 bis 40 Euro fällig. Wer nur einen Helm oder einen Dreispitz mit Goldborte aus dem Haus trägt, zahlt weniger. Ein Ritter in Vollausrüstung inklusive stumpfer Waffe und Schild schlägt mit 50 Euro zu Buche. „Das ist nicht viel“, sagt Ruth Müller. „Davon führen wir 19 Prozent Mehrwertsteuer an das Finanzamt ab. Schreiben Sie das ruhig.“
Die Einkünfte gehen an die Narrenzunft und an den Kostümfundus selbst. Der wächst leise. Immer wieder schaut die Chefin, wo sie preiswert zu neuen tragbaren Antiquitäten kommen kann. Wenn ein Theater einen Teil des Fundus auflöst, ist sie dabei.

Im Lauf der Jahre stellte sie fest, dass viele Frauen nicht mehr in die Mittelalterröcke passen. Woran das liegt? Entweder sind die Damen fülliger geworden oder die Stücke schrumpfen. Müller rollt die Augen. „Selten war Kleidung in Übergröße in der Kammer. Da habe ich welche dazugekauft.“
So wächst das Depot im alten E-Werk langsam. Manches Mal kommt Müller auch an Schenkungen, doch fasst sie die alten Sachen mit spitzem Finger an. Oft wird Ware angeliefert, die nicht brauchbar sei. „Unterwäsche mit Spitzen oder so, was soll ich damit anfangen? Das kann nur die Hex‘ tragen“.
Korrektheit ist der Fasnacht fremd
Noch eine Kategorie an Accessoires ist hier ungeniert versammelt: Auf einer Stange hängen hübsche Tierpelze. Nerz und Fuchs baumeln mit kleinen Tatzen und aufgesperrtem Maul über der Kleiderstange. Diese tierischen Halswärmer werden heute kaum mehr getragen. In der Zunftstube dagegen sind sie bestens aufgehoben. Sie möbeln für einige Tage manches Outfit auf.

Korrektheit ist der Fasnacht fremd. In bestimmte Narrentypen gehen seit jeher nur Männer. Das wird überwiegend akzeptiert. Auch von Ruth Müller. Doch fanden die Frauen in Bräunlingen vor einigen Jahren einen Ausweg. Sie nähten sich eine eigene Närrin auf den Leib – den Blumennarr. Da dürfen nur Frauen und Mädchen rein. Er hängt in einer eigenen Kammer.
Sie selbst braucht nichts zum Leihen. Zuhause hat sie ihr eigenes Magazin aufgebaut. Ihre Söhne und viele Bekannte holen dort direkt ihr Gewand ab. Bisher hat sie für jeden etwas gefunden, was passt. Für fast jeden, Jesses Gott.