Es geht um Macht und Sex, um Polizeihierarchie, um einen Vorgesetzten und eine jüngere Untergebene, um intime Details und sexuelle Vorlieben, unter denen das Versenden von Nacktbildern eine harmlose ist. Aber auch an Tag zwei im Prozess gegen den suspendierten Inspekteur der baden-württembergischen Polizei, Andreas R., geht es im Stuttgarter Landgericht vor allem auch um die Deutungshoheit von Anklage und Verteidigung. Wer ist Opfer? Wer ist Täter?

Die eine Geschichte geht so: Eine junge Polizeibeamtin wird von einem Vorgesetzten, gegen den sie sich nicht zu wehren wagt, sexuell belästigt und, als sie es öffentlich macht, erst recht zum Opfer, muss über ihr Intimleben Auskunft geben, wird öffentlich mit falschen Darstellungen in den Dreck gezogen und diffamiert, ihre Karrierehoffnung ist begraben. Sie tritt als Nebenklägerin im Prozess auf.

Für die Verteidigung von Andreas R. geht die Geschichte anders. Seine Rechtsanwältin Ricarda Lang lässt keine Chance aus, um klar zu machen: Das Opfer sitzt für sie auf der Anklagebank. Die Geschichte der Verteidigung also: Ein höher gestellter Mann wird von einer jüngeren Frau der sexuellen Belästigung beschuldigt, obwohl sie zuvor gezielt seine Aufmerksamkeit und Zuneigung suchte, sie zerstört seine berufliche Existenz und sagt wissentlich die Unwahrheit.

Nur eine der beiden Geschichten kann so stimmen, eine Grauzone gibt es kaum in diesem Fall. Dazu trägt die Berichterstattung vor allem des Boulevards bei – der Angeklagte, der auch Nacktbilder von sich an andere Frauen verschickte, wird als „Penis-Polizist“ bezeichnet, es werden Intimitäten breitgetreten, die zwar ein vielsagendes Persönlichkeitsbild des Angeklagten abgeben, für das Strafverfahren aber keine Rolle spielen. Und wohl auch nicht für die Ehefrau von Andreas R.. Auch am zweiten Verhandlungstag sitzt sie teils neben ihm, begleitet die Verhandlung. Untergehakt verlassen beide das Gericht.

Worum es geht? Um eine Nacht im November 2021, in der Andreas R. und die jüngere Kommissarin zu später Stunde in einer Stuttgarter Kneipe landen. Man hat vorher schon gemeinsam Alkohol getrunken, erst im Innenministerium, später in einer anderen Wirtschaft mit Kollegen. in die Kneipe kommen die beiden gegen ein Uhr zu zweit. Sie setzen sich auf Barhocker am Eingang, deshalb wird jede ihrer Bewegungen per Video aufgezeichnet, wenn auch aus der Entfernung und schwer im Detail zu erkennen.

Aussage gegen Aussage

Man sieht auf den Videos, die vor Gericht gezeigt werden, zwei Menschen, die vertraut wirken, sich umarmen, sich intensiv küssen, sich unterhalten, Stirn an Stirn. Über Stunden. Was man nicht sieht: deutliche Abwehrbewegungen der Frau. Gut vier Minuten fehlen auf diesem Band – und die sind entscheidend für den Prozess. Beide gehen gegen drei Uhr morgens kurz nach draußen. Über das, was im Hinterhof passiert, wissen nur die beiden Bescheid.

Sie sagt, er habe ihre Hand genommen, an sein Geschlechtsteil geführt und uriniert. Er sagt, sie habe die Initiative gezeigt, nach seinem Geschlechtsteil gegriffen. Als die beiden kurz darauf die Kneipe wieder betreten, scheint zunächst nichts anders. Nur die Frau wirkt betrunkener, stützt immer wieder ihren Kopf ab, zeigt keine Initiative mehr.

Anklage und Verteidigung werten die tonlosen Aufnahmen freilich völlig unterschiedlich. „Es ist kein einziger Moment auf den Bildern erkennbar, in dem die Anzeigenerstatterin auch nur im Ansatz den Eindruck von Ekel, Schock oder Angst erweckt“, sagt die Verteidigerin von Andreas R. Dagegen sieht der auf Opferrecht spezialisierte Heidelberger Jurist Holger Rohne, Rechtsvertreter der Kommissarin, dass diese nach der Rückkehr in die Kneipe „sichtlich durch“ gewesen sei, immer wieder den Kopf weggezogen habe, während Andreas R. immer wieder Anstalten machte, sie zu küssen. Eine „nötigungsähnliche Zwangslage“ nennt der Jurist dies und verweist darauf, dass es nicht drauf ankomme, ob sich die Frau aktiv gewehrt habe oder warum sie die Situation nicht selbst beendet habe. „Sondern: Warum der Angeklagte die Situation herbeigeführt hat.“

Unlauteres Vorgehen der Verteidigung?

Dass die Verteidigung von Andreas R. ihre Version des Geschehens ohne Zustimmung des Gerichts noch vor Beginn des ersten Verhandlungstags schriftlich an die Medien gab und gestern erneut öffentlich in der Verhandlung die Beamtin beschuldigte, im Ermittlungsverfahren die Unwahrheit gesagt zu haben, ist für die Anwälte der Beamtin allerdings ein erneuter Beweis für unlauteres Vorgehen der Gegenseite – und sollte nach ihrer Sicht sogar die Staatsanwaltschaft beschäftigen. „Mit einem fairen und sauberen Verfahren hat das nichts zu tun“, teilt Rohne seinerseits dem Gericht und der Presse schriftlich mit. „Der Angeklagte ist höchster Polizeibeamter des Landes und will ein faires Verfahren. Braucht er für seine Verteidigung die Verunglimpfung einer jungen Kommissarin? Wenn ja, warum?“ fragt er.

Aussage und Befragung der Beamtin selbst am Dienstag fanden nicht-öffentlich statt. Das Verfahren wird kommenden Dienstag fortgesetzt. Unter andere Zeugen ist auch Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz geladen.