Mit ihren E-Bikes strampeln die beiden Frauen die neue Radbrücke nach oben. Plötzlich bleibt die eine stehen: „Du, mach doch schnell ein Foto von mir mit dem Schloss im Hintergrund. Das schicke ich meiner Tochter.“ Die beiden sind nicht die Einzigen, die hoch über den Gleisen kurz verweilen und das Handy zücken. Auf der gegenüberliegenden Seite ist ein Selfie mit Blick auf die Bahngleise in Arbeit.

Tübingen hat ein neues Fotomotiv: Deutschlands längste und teuerste Radbrücke – die Ann Arbor Bridge. Schon optisch ein Bauwerk der Superlative: 365 Meter lang, mit blauem Belag und Fußbodenheizung für den Winter. Das Symbol einer anderen Verkehrspolitik.

Tübingens Radler jubeln. Doch das 16-Millionen-Bauwerk bringt der Stadt und ihrem Oberbürgermeister Boris Palmer nicht nur Lob und Anerkennung ein, sondern auch Häme und Kritik. „Boris Palmer eröffnet Tübingens teuerste Radbrücke“ titelte die „Bild“-Zeitung süffisant.

Das Bauwerk schaffte es in die Medien der Republik, von der Tagesschau bis hin zum Radiosender in Brandenburg. Ganz oft mit dem Unterton: Darf man wirklich so viel Geld für Radfahrer ausgeben?

Zehn Meter über den Bahngleisen

In der Tat hat Tübingen weder Mühen noch Kosten gescheut. Die neue Brücke schlängelt sich mit maximal sechs Prozent Steigung bis auf eine Höhe von zehn Metern über den Bahngleisen und sticht mit ihrem leuchtend blauen Belag ins Auge.

Das Bauwerk fügt sich nahtlos in den neu gestalteten Bahnhofsbereich mit Fahrrad-Tiefgarage und dem – natürlich blauen – Fahrradweg. Dazu gibt es einen der ersten Kreisverkehre in Deutschland exklusiv für Radfahrer. Die Radbrücke West ist die markanteste der vier Radbrücken des „blauen Bands“, jenen zentralen Rad-Achsen aus dem Tübinger Radverkehrskonzept.

Mit maximal sechs Prozent Steigung geht es bis zehn Meter hoch über die Gleise.
Mit maximal sechs Prozent Steigung geht es bis zehn Meter hoch über die Gleise. | Bild: Brigitte Gisel

Im unmittelbaren Umfeld der jetzt fertiggestellten Radbrücke ist viel Radler-Potenzial: Sie verbindet die südlichen Stadtteile mit rund 3500 Arbeitsplätzen bei Landratsamt, Regierungspräsidium, Polizei und der Zentrale der Kreissparkasse mit den nördlich gelegenen.

Ein Steinwurf von der Brücke entfernt gibt es drei Gymnasien mit mehr als 2500 Schülern. Das alles ist jetzt kreuzungs- und autofrei zu erreichen, als Dreingabe winkt ein freier Blick aufs Schloss und Teile der Stadt.

Wer Richtung Norden geradeaus weiterfährt, erreicht über einen Fuß- und Radtunnel die Altstadt. Für Radpendler mit größerem Radius geht es von dort aus zu den Unikliniken und den auf dem Berg gelegenen Unigebäuden.

Keine Unfälle

Die ersten Zahlen geben der Stadt recht. Eine Woche nach der Eröffnung wurden innerhalb von 24 Stunden 2135 Radler auf der Brücke gezählt. Den Kreisverkehr passierten 3614 Fahrradfahrer. Auch an der nächsten Zählstation entlang der Verkehrsachse seien seither mehr Radfahrer registriert worden. Palmer verkündet mit der Zahl von 6000 Radlern am 5. November einen neuen Rekord. „Das sind Zahlen, die wir früher nur an heißen Freibadtagen hatten“, schreibt er.

Auch der Radkreisverkehr – einer der ersten Deutschlands – werde „sehr gut“ angenommen, schreibt die Stadtverwaltung. An die Verkehrsführung hätten sich die Radler gewöhnt. Und passiert ist auf und an der Brücke offenbar auch noch nichts. „Uns sind keine Unfälle bekannt“, meldet das städtische Presseamt nach drei Wochen.

Die Radelnden sind begeistert. „Ich fahre jetzt doppelt so gerne zur Arbeit“, sagt Landratsamts-Mitarbeiterin Sylvia Minde. Sie hat es von ihrer Wohnung in der Altstadt nicht wirklich weit, findet die neue Brücke aber sehr viel schöner zu fahren. Vorher musste sie sich mit geschlossenen Bahnschranken, Ampeln und Autos herumärgern. Das falle jetzt alles weg.

Der alte Radweg entlang der Bundesstraße sei außerdem im Winter weder gestreut noch geräumt worden. „Ich bin im letzten Winter drei Wochen lang Bus gefahren“, erinnert sich die begeisterte Radlerin. „Ich finde sie auch ganz klasse“, sagt ihre Kollegin Lydia Reinert. „Die neue Brücke spart mir fünf Minuten“, sagt sie. „Außerdem ist es viel angenehmer und ich fühle mich auch sicherer.“

Schön anzuschauen, auch nachts

Auch ein weiterer Pendler genießt das neue Angebot. Er kommt mit seinem Lastenrad aus einem Dorf Richtung Reutlingen und spart jetzt Zeit, Ampeln und eine Unterführung. Sein Weg zur Arbeit sei außerdem neuerdings „architektonisch ein Highlight. Auch nachts.“ Die Brücke ist im Dunkeln dezent beleuchtet.

Johannes Untraut, Radverkehrskoordinator beim Landratsamt, hört bisher nur Gutes und genießt privat den Weg über die Brücke. Vom Wettbewerb Stadtradeln weiß er, dass Fahrräder im Behördenzentrum eine große Rolle spielen – denn Parkplätze sind ein knappes Gut.

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Doch kaum hat sich der rosa Disconebel gelegt, durch den die Polit-Prominenz bei der Freigabe der Brücke geradelt war, melden sich die Kritiker. Aufreger Nummer eins: die Kosten. Das Magazin „Focus“ lästert genüsslich, dass Palmer im ZDF bei Markus Lanz ein 40-Millionen-Loch im städtischen Haushalt verkündet und gleichzeitig seine millionenschwere Radbrücke feiert.

In den sozialen Medien kommt es noch dicker: „Besser kann man Steuergelder nicht verschwenden“, mault ein Facebook-Schreiber und greift zur großen Keule: „Währenddessen müssen unsere Rentner im Müll nach Pfandflaschen wühlen.“ Ein anderer meint lapidar: „Man hätte das Geld besser für die Sanierung von Straßen ausgeben können.“

Aufreger sind die Kosten

Palmer hält dagegen, denn es ist mitnichten so, dass die Stadt die Brücke komplett aus dem eigenen Etat gezahlt hätte. Drei Viertel der Kosten tragen Bund und Land, die Stadt übernimmt 4,5 Millionen Euro. Allerdings zeigte sich auch in Tübingen mal wieder die Krux der Großprojekte. Fünf Millionen Euro sollte die Brücke ursprünglich kosten. Beim Baubeschluss waren es bereits elf Millionen. Und jetzt, nach Fertigstellung, sind es 16 Millionen.

Was die Kostenkritiker am meisten empört: Das blaue Band für Radler hat eine eingebaute Heizung, die, mit Ökostrom betrieben, bei Temperaturen ab 3 Grad dafür sorgt, dass weder Regen noch Nebel die Brücke zur Rutschpartie werden lassen.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer bei einer Veranstaltung. Wenige Tage vor dem Ende seiner einmonatigen Auszeit hat sich ...
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer bei einer Veranstaltung. Wenige Tage vor dem Ende seiner einmonatigen Auszeit hat sich Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer auf Facebook zurückgemeldet. (zu dpa: “Vor dem Ende der Auszeit: Palmer meldet sich auf Facebook zurück„) Foto: Jan-Philipp Strobel/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ | Bild: Jan-Philipp Strobel

Was das kostet? 300.000 Euro sagte der OB am Eröffnungstag gegenüber dem Südwestrundfunk. Andere Medien berichteten von Summen zwischen 400.000 und 500.000 Euro. Dem SÜDKURIER nannte die städtische Pressestelle auf mehrmaliges Nachfragen eine andere Zahl: rund 670.000 Euro brutto – vorbehaltlich der Schlussabrechnung, die noch ausstehe.

Bei den laufenden Kosten hat Tübingen bereits mit zwei weiteren Radbrücken Erfahrung, die mit einer Flächenheizung ausgerüstet wurden. „Die Kosten des Heizbetriebs sind gegenüber den Baukosten gering“, sagt die Stadt. Der Verzicht auf Streusalz verlängere die Lebensdauer der Brücke um die Hälfte.

Fußgänger dürfen nicht drauf

Aufreger Nummer zwei: das Verbot für Fußgänger. Anders als S-Pedelecs und E-Scooter dürfen Fußgänger und auch Rollstuhlfahrer die neue Brücke nämlich – juristisch betrachtet – nicht benutzen. Das stellt die Stadtverwaltung auf Anfrage des SÜDKURIER noch einmal klar. Ein mit blauem Schild gekennzeichneter Fahrradweg ist ein Radweg und damit für Fußgänger verboten.

Das bringt jetzt alle auf die Palme, die sich erstens als Fußgänger ohnehin benachteiligt fühlen, zweitens die Tübinger Fahrradfahrer nicht leiden können und drittens mit der ganzen Radförderung von OB und Gemeinderat auf Kriegsfuß stehen.

Das Thema erhitzt die Teilnehmer von Seniorensportgruppen und Kaffeerunden, füllt Leserbriefspalten des lokalen „Schwäbischen Tagblatts“ und befeuert die sozialen Medien. Allerdings hat der OB versprochen, keine Stadtsheriffs gegen Fußgänger in Stellung zu bringen.

Ein Radfahrer mit Kinderanhänger auf der alten, 2021 eröffneten Radbrücke in Tübingen.
Ein Radfahrer mit Kinderanhänger auf der alten, 2021 eröffneten Radbrücke in Tübingen. | Bild: Christoph Schmidt, dpa

Boris Palmer lässt das an sich abperlen. „Es gibt keine Kritik vieler Fußgänger, weil die Brücke für diese kaum einen Nutzen hätte“, sagt er dem SÜDKURIER. Die Wege zwischen relevanten Zielen seien schlicht zu weit. Überdies sei die Entscheidung, die Brücke als reine Radbrücke zu bauen, weit im Vorfeld im Gemeinderat gefallen.

Allerdings war die Entscheidung 2019 nicht unumstritten. Mit 22 Stimmen lehnten es AL/Grüne und SPD ab, die Brücke fußgängertauglich zu machen. 16 Rätinnen und Räte von CDU, FDP, der Tübinger Liste und der „Fraktion“ folgten dagegen einem Antrag der Linken, die Brücke auf 5,55 Meter zu verbreitern. Palmer schätzt, dass die Stadt für eine breitere Brücke sieben Millionen Euro hätte zahlen müssen.

Ganz und gar unstrittig ist die Namensgebung: Sie soll „Ann Arbor Bridge“ heißen, befand der OB, benannt nach Tübingens Partnerstadt in den USA. Kaum war der OB das erste Mal offiziell im blauen Klimaschutzanzug über die Brücke geradelt, befestigte er ein provisorisches Namensschild am Geländer. Schon eine Woche später folgte ein interfraktioneller Antrag von AL/Grünen und der CDU, dies in die Tat umzusetzen. Der Rest ist Formsache.