Boris Palmer hat schon 2017 seine Gedanken zu Papier gebracht, wie es mit der Migration weitergehen soll. „Wir können nicht allen helfen – Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit“ – hieß damals der Titel seines Buches, das heftige Debatten bei den Grünen auslöste. Darf ein Grüner so etwas schreiben? Sollten Probleme im Zusammenhang mit der Migration – Wohnungsnot, Umgang mit Gewalt, Abschiebungen, Sicherheit – nicht offen angesprochen werden, warnte Palmer darin, würden die Rechtspopulisten erstarken und die Gesellschaft an ihre Zerreißprobe kommen.
Sechs Jahre später, im Oktober 2023, ist Palmer noch immer Oberbürgermeister von Tübingen, hat aber kein grünes Parteibuch mehr. Die Rechtspopulisten sind erstarkt, die Gesellschaft steht vor einer Zerreißprobe. Nicht zuletzt, weil es vielen Menschen zu viele Krisen werden und die Politik zu wenig Lösungen liefert. Krieg in Europa, Energiekrise, Wirtschaftskrise, Wohnungskrise, Flüchtlingskrise.
Palmer hat in Tübingen Unterkünfte für Flüchtlinge zu organisieren, wie alle Rathauschefs der 1101 baden-württembergischen Städte und Gemeinden. Und sie müssen alle unterbringen, die da kommen. Auch diejenigen, die eigentlich gehen müssten, es aber nicht tun. Das ist die Rechtslage. Umso mehr zürnt der 51-Jährige immer noch darüber, dass sich der Staat, so sieht es Palmer, von Einzelnen auf der Nase herumtanzen lässt und so dazu beiträgt, die Stimmung weiter gegenüber allen anderen Schutzsuchenden kippen zu lassen.
Warum also verwirken Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, ihr Bleiberecht nicht, wenn sie Straftaten begehen? Eine Frage, die erst Mitte September wieder hochkam, als in Stuttgart bei den Eritrea-Ausschreitungen 30 Polizeibeamte zwischen die Fronten von Regime-Gegnern und Anhängern des ostafrikanischen diktatorischen Regimes gerieten, angegriffen und verletzt wurden. 228 Personen wurden anschließend kurz festgenommen, die allermeisten von ihnen eritreische Flüchtlinge.
Gegen sie wird ermittelt, sie kommen vor Gericht. Abschiebungen haben sie nicht zu fürchten. Eritrea ist eine Diktatur, in der Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Deutschland schiebt nicht nach Eritrea ab. Das wirft die Frage auf: Setzt sich der Staat mit allen zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln gegen ausländische Straf- und Gewalttäter zur Wehr? Palmer sagt: „Nein. Ganz eindeutig nein.“
Strafe richtet sich nicht nach dem Aufenthaltsstatus
„Selbstverständlich“, sagt die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges. Es gilt: Vor dem Gericht sind alle gleich. Wenn Geflüchtete, Asylbewerber, Geduldete oder andere Ausländer Straftaten begehen, werden sie von Polizei und Justiz verfolgt und belangt wie Deutsche auch.
Der Strafrahmen ist für alle gleich und richtet sich nach dem Strafgesetzbuch, das Urteil innerhalb des Strafrahmens nach dem Einzelfall. Nicht nach Nationalität und Aufenthaltsstatus des Straftäters. Flüchtlinge können zwar ihr Grundrecht auf Asyl verlieren, wenn sie schwere Straftaten begehen. Die EU-Mitgliedsstaaten können ihnen den Flüchtlingsstatus aberkennen, wenn die Straftäter eine Gefahr für die allgemeine Sicherheit darstellen. Zwangsläufig abgeschoben werden die Täter aber nicht.
Was viele Menschen nicht nachvollziehen können: Unabhängig von begangenen Straftaten gilt auch für straffällige Asylbewerber ebenso wie für abgelehnte Asylbewerber die Genfer Konvention und die EU-Grundrechtecharta. Es darf nicht in ein Land abgeschoben werden, wo Folter oder Verfolgung drohen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern in der ganzen EU.
Das kann man bedauern oder richtig finden – es ist die Rechtslage. Wer das ändern will, muss nicht nur das Grundgesetz ändern, sondern auch die europäische Rechtsprechung. Ganz abgesehen davon, dass es für eine Abschiebung ein Rückführungsabkommen mit dem jeweiligen Herkunftsland braucht – wenn das Herkunftsland überhaupt geklärt werden kann.
Um die Abschiebung schwerster Straftäter, von denen eine erhebliche Gefahr für die Gesellschaft ausgeht, kümmert sich in Baden-Württemberg gezielt der „Sonderstab gefährliche Ausländer“, der im Justizministerium angesiedelt ist. Er bearbeitet jährlich etwa eine mittlere dreistellige Fallzahl. Seit 2018 wurden über 300 ausländische Intensivtäter durch die Arbeit des Stabs abgeschoben.
Die Einzelfallbetrachtung zeigt, wie mühsam eine einzige Identitätsfeststellung sein kann. Das kann Monate, manchmal auch Jahre dauern. Denn das Erste, was illegale Migranten ohne Hoffnung auf Bleiberecht machen, wenn sie deutschen Boden betreten, ist: Pass und Papiere vernichten. Alle Spuren auf dem Handy löschen. Die Identität verschleiern. Aber ohne Identitätsfeststellung kein Heimatland, ohne Heimatland keine Papiere, ohne Papiere keine Abschiebung. Denn wohin soll jemand abgeschoben werden, von dem man nicht weiß, woher er kommt?
Wer in den Fokus des Sonderstabs gerät, hat mehr auf dem Kerbholz als Ladendiebstahl oder Schwarzfahren und sitzt meist bereits in Haft oder in Abschiebehaft. Auch deren Dauer aber ist gesetzlich begrenzt. Dass dem Gesetz Genüge getan wird, dafür sorgt auch eine Armee von Anwälten, die sich auf solche Fälle und Flüchtlingshilfe spezialisiert haben. Sie klagen ihre Mandanten durch alle Instanzen.
Der Konstanzer Fall des Gambiers Alieu Ceesay
Dass das Gesetz für alle gleich ist, heißt aber auch, dass es keine Einzelfallgerechtigkeit gibt. Was wiederum in der Öffentlichkeit auf Unverständnis stößt. Wer Straftaten verübt hat und keine asylrechtliche Bleibeperspektive hat, den schützt auch eine spätere gelungene Integration nicht vor Abschiebung, wie der Fall des Konstanzer Klempner-Azubis Alieu Ceesay zeigte.
Der Gambier, dessen Asylantrag schon 2021 abgelehnt worden war und der eine Verurteilung wegen Drogenbesitzes in den Akten stehen hatte, hatte sich zwar danach bestens integriert, fiel aber wegen der Verurteilung aus der Ausbildungsduldung. Der Abschiebung entging er durch freiwillige Ausreise. Eine Ausnahme gibt es bei verurteilten Straftätern nicht, auch nicht, wenn es eine positive Ausnahme ist. Gleiches Recht für alle.
Und ist eine Gefängnisstrafe verbüßt, kommt ein Täter danach frei. Auch ein Vergewaltiger. Ob Deutscher oder Asylbewerber oder Flüchtling. Im Fall des Afghanen, der 2019 in Illerkirchberg an der Vergewaltigung einer 14-Jährigen beteiligt war, nach Verbüßung der Haftstrafe Anfang 2023 entlassen wurde, seitdem wieder in Illerkirchberg lebt und bereits erneut wegen Verstoßes gegen Meldeauflagen und anderer Delikte polizeiauffällig wurde, ist das für viele Menschen schwer zu verstehen.
Aber seit 2021, der Machtübernahme der Taliban, sind Abschiebungen nach Afghanistan von der Bundesregierung ausgesetzt. Aus vielen Ländern, auch von der baden-württembergischen Justizministerin Gentges, gibt es längst die Forderung, die Aussetzung zurückzunehmen. Aber selbst wenn dieser Beschluss fallen würde, ist unklar, ob Afghanistan überhaupt kooperieren würde. Der Bund jedenfalls und auch Innenministerin Faeser verweisen wiederholt auf praktische Hemmnisse und Hindernisse. Für Boris Palmer ist das nicht glaubhaft. „Da ist auch viel nicht Wollen dabei“, sagt er.
Der Tübinger OB ist der Auffassung, dass auch bei weniger schweren Straftaten durch Geflüchtete unmittelbar scharfe Sanktionen folgen müssten. „In vielen Fällen erfolgt gar keine staatliche Reaktion oder viel zu spät“, sagt Palmer. Er führt als Beispiel aus Tübingen Fälle von polizeibekannten Mehrfachstraftätern an, die sich im Asylverfahren befinden. Neue Delikte ziehen keine spürbaren Sanktionen nach sich. „Das ist für sie das Signal, dass sie machen können, was sie wollen.“ Mit Bewährungs- oder Geldstrafen, die im deutschen Justizsystem auf Straftäter zugeschnitten sind, die hierzulande sozialisiert wurden, seien Täter aus Herkunftsländern, in denen oft der Staat selbst kriminell agiert und staatliche Gewalt ganz andere Ausprägungen hat, überhaupt nicht erreichbar.
Palmer will für diese Tätergruppe sofortige, spürbare Konsequenzen. Leistungskürzungen, Sachleistungen statt Bargeld, Wohnungsentzug, Rückverweisungen in Sammelunterkünfte, Residenzpflicht, scharfe Kontrollen. Zustimmung ist ihm sicher, nicht nur von Populisten. „Aber das darf ich alles nicht“, sagt Palmer, obwohl das Land Baden-Württemberg dies ermöglichen könnte.
Stimmt nicht, teilt das Justizministerium mit. Die Zurückverlegung von Asylsuchenden in Landeserstaufnahmeeinrichtungen sei nicht von geltendem Bundesrecht gedeckt. „Darüber hinaus ist die zentralisierte Unterbringung von straffällig gewordenen Personen innerhalb einer Unterkunft aus Resozialisierungs- und Sicherheitsgesichtspunkten und unter Berücksichtigung der legitimen Interessen der Standortkommunen von LEAs nicht realisierbar“, heißt es.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Kriminalität und Sicherheit sind nur ein kleines Puzzleteil in dieser großen Migrations-Gemengelage. Harte Sanktionen, Abschiebungen von straffälligen Geflüchteten wären ein Signal, das dem Gerechtigkeitsempfinden unzufriedener Bürger weit mehr entsprechen würde als es tatsächlich zahlenmäßig vor Ort Entlastung verschaffen würde. Lässt man Verstöße gegen das Ausländerrecht außen vor, wird nur ein Bruchteil der Asylsuchenden und Geflüchteten überhaupt straffällig, auch wenn sie in einzelnen Deliktbereichen überproportional vertreten sind. In Baden-Württemberg etwa sinkt die Zahl seit Jahren: 2021 war an 8,5 Prozent der aufgeklärten Straftaten ein Geflüchteter beteiligt, der niedrigste Wert seit 2014.