Eine Frauenhand mit lavendelblauen Fingernägeln drückt den zierlichen Kippschalter nach unten. Die sparsame Bewegung löst ein durchdringendes Beben aus. Die wenigen Zentimeter, die der Schalter nach unten gegangen ist, setzen eine Glocke in Gang.

An diesem brütenden Nachmittag wird Helena Kotarlic noch manches der Bedienungselemente nach oben oder nach unten schieben. Sie ist die Regisseurin einer Veranstaltung, die man in einem Menschenleben nur selten erleben wird: Kotarlic lässt die Glocken des Konstanzer Münsters zum Konzert aufspielen.

Akustischer Ausnahmezustand in Konstanz

Einige hundert Menschen haben sich am Münsterplatz an diesem Tag versammelt. Es sind teils alte Konstanzer, die sich den Ohrenschmaus nicht entgehen lassen wollen. Und es sind Touristen, die für einige Minuten ihre Handys weglegen, ohne die sie sich offenbar nicht in der überschaubaren Innenstadt zurechtfinden.

Kleinkinder deuten auf den Münsterturm, alte Leute setzen sich in ihre Rollatoren und hören zu. In der Stadt herrscht akustischer Ausnahmezustand. Das Läutwerk über ihren Köpfen ist eines der größten im deutschen Sprachraum. Es ist weit über das Oval des alten Platzes hörbar. Der obertonreiche Klang verbreitet sich über die Gassen der Niederburg bis an den Bodensee, der diese Musik noch verstärkt.

Italienische Glockeninspektoren zu Besuch

Helena Kotarlic ist Glockeninspektorin der Erzdiözese Freiburg. Wo immer das Geläute einer Kirche schwächelt, arbeitet sie als Gutachterin. Soll eine neue Glocke angeschafft werden? Kann man alte Exemplare reparieren? Fragen wie diese bewegen die Fachfrau, die sich mit diesen gewichtigen Instrumenten ein Studium lang beschäftigt hat.

Sie empfing auch eine Gruppe italienischer Kollegen, die sich in der süddeutschen Glockenwelt umschauen. Die Wahl der italienischen Delegation fiel dabei auf Widnau (Kanton St. Gallen), Freiburg und Konstanz, wobei letzteres das größte Läutwerk besitzt.

Kunstreise ist Ursache für Konzert

Während Kotarlic vom Münsterturm aus die Glocken in den zwei Türmen spielen ließ, standen ihre Kollegen aus dem Süden staunend auf dem Münsterplatz. „Das Läutwerk von Konstanz zählt zu den besten in Europa“, schwärmte Flavio Zambotto aus dem norditalienischen Vicenza, der die Expedition anführte. Die Kunstreise der Fachleute aus Italien war Ursache für das Konzert.

Denn Glocken werden sonst ausschließlich liturgisch eingesetzt. Sie erklingen auch in Konstanz zu festgesetzten Zeiten, zu Festtagen, zum Jahresende oder zum Einläuten des Gottesdienstes. Für Vorführungen sind die mächtigen Bronzeteile eigentlich nicht gedacht.

Eine der Glockenstuben im Konstanzer Münster mit der großen Marienglocke.
Eine der Glockenstuben im Konstanzer Münster mit der großen Marienglocke. | Bild: Fricker, Ulrich

Marienglocke wiegt 6,9 Tonnen

Die größte Glocke unter den 19 ist die Marienglocke. Sie stammt wie die meisten anderen auch aus der Nachkriegszeit. 6,5 Tonnen bringt sie auf die Waage. Sie verleiht dem Konzert ihren durchdringenden Tiefton, über den sich zahlreiche Obertöne legen, die nur ein Fachmann zuordnen kann.

„Diese Glocke wird zu Weihnachten geläutet, zur Christmette. Auch in der letzten Stunde des alten Jahres erklingt sie und läutet mit den anderen Glocken das neue Jahr ein“, berichtet Manuel Kunemann. Als Mesner hat er das Treffen mit dem Konzert als Höhepunkt mitvorbereitet.

Zusammen mit der Inspektorin Kotarlic stieg er die mühsamen 160 Stufen in die Glockenstuben hinauf. Er zeigte ihr die unscheinbaren Schalter, mit denen man die sakrale Soundmaschine in Gang setzt. Für ihn und für die Inspektorin ist dieser Tag aufregend. Vor lauter Rennerei kommt sie nicht einmal zu ihrem Vesper.

Blick in die Glockenstube am Konstanzer Münster Video: Fricker, Ulrich

Kurz vor dem Konzert geht sie den Schaltplan durch, der den Ablauf im Minutentakt regelt. Dabei werden einzelne Glocken geläutet und später zu Gruppen verbunden. Am Ende der 50 Minuten dauernden Klangreise wird das gesamte Läutwerk zum Tutti zusammengeführt. Das klingt wie Weihnachten und Silvester auf einmal. Auch das Totenglöcken erklingt, es wurde in der Stauferzeit gegossen und bimmelt eher dumpf. An diesem Sonnentag verschmilzt es gnädig mit seinen 18 Schwestern.