„Ach, jetzt bin ich noch gar nicht dazu gekommen, mich zu frisieren“, sagt Karina Dietl, als sie um 11 Uhr die Tür öffnet. Die schlohweißen Haare sind noch ein bisschen wuschelig, aber sie strahlt die Besucherin an.
Heute ist ihr Überlebenstag. So nennt die 90-Jährige jene Tage, an denen sie ohne die Frauen von der Nachbarschaftshilfe auskommen muss, die ihr bei der Morgentoilette und beim Frühstückmachen helfen. Dann muss sie allein zurechtkommen.
Dass sie je wieder in ihrer großen, hellen Wohnung in Bodman mit Blick auf den See leben könnte, hätte sie 2022 nicht gedacht. „Da war ich so schwach, dass ich nicht einmal mehr auf der Bettkante sitzen konnte.“ Doch sie hat sich zurückgekämpft aus dem Hospiz in Singen in ihre eigenen vier Wände.
Zurück ins Leben gekämpft haben sich vor Jahren auch die Österreicherin Natascha Kampusch und Samuel Koch.
Sie überlebte jahrelangen Missbrauch gefangen in einem Keller, er ist seit seinem Unfall bei „Wetten, dass...?“ querschnittsgelähmt und arbeitet heute als Schauspieler.
Das sind prominente Beispiele, die zeigen, dass Menschen sich trotz widrigster Umstände und Lebenskrisen nicht aus der Bahn werfen lassen und psychisch gesund bleiben – so wie Karina Dietl.

Warum gehen diese Menschen nicht in die Knie? Hier setzt Raffael Kalisch mit seiner Resilienzforschung an. Er ist Professor für Bildgebung des menschlichen Gehirns an der Universitätsmedizin in Mainz und Gründungsmitglied am dortigen „Leibniz Institut für Resilienzforschung“.
Der Neurowissenschaftler und sein Team begleiten langfristig junge Erwachsene am Übergang ins Berufsleben. Früher sei Resilienz als fixes Persönlichkeitsmerkmal gesehen worden, sagt er. Doch seine Forschungen zeigen, dass Menschen auch in schwierigen Lebensphasen Fähigkeiten erwerben können, die ihnen helfen, gesund zu bleiben.
In Karina Dietl schlummern gleich mehrere Arten von Krebs: 2015 wurde ein Gebärmutter-Karzinom festgestellt, 2021 metastasierender Hautkrebs und eine chronisch lymphatische Leukämie, bei der sich weiße Blutkörperchen in Knochenmark und Blut unkontrolliert vermehren. Zusätzlich fanden die Ärzte je eine Metastase im Gehirn, der Leber und der Lunge, also Ableger eines bösartigen Tumors.
Ihre geliebten Männer sind gestorben
Seit fünf Jahren lebt sie allein. „Es ist kein Verlass auf die Kerle“, sagt sie, als sie von ihren beiden Männern, den großen Lieben ihres Lebens erzählt und lacht laut und herzlich. Sie spricht schnell und geschliffen. „Manchmal suche ich nach Worten. Wenn man so viel allein ist, verliert man die Sprache.“ Doch davon ist in diesem Moment nichts zu spüren.
Beide Männer sind tot. Karina Dietl hat sie im selben Grab bestatten lassen. Den Gedanken, dass sie dort nahe beieinander sind, fand sie schön. Ihr Mann Eberhard, den sie nur Hein nannte, starb schon 2005. „Ich würde ihn jedes Mal wieder heiraten“, sagt sie lächelnd. Aber lieber früher, denn sie seien beide schon Ende 30 gewesen, als sie sich kennenlernten.

Vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes zog Mani aus Hessen zu ihr an den Bodensee. Er war damals 60, sie 75. „Der Altersunterschied hat ihm nichts ausgemacht – und mir auch nicht“, sagt Karina Dietl. Sie und ihr Mann hatten ihn Jahre zuvor an der Theke einer Kölner Kneipe kennengelernt, und er war ein guter Freund geworden.
„Wir hatten sehr schöne, intensive Jahre“, schwärmt sie von dem späten Glück, das sie mit ihm noch zehn Jahre erleben durfte, ehe auch er 2019 starb. Überall in der Wohnung stehen Bilder von ihr und Mani, glücklich Seite an Seite.
Doch egal, wie das Leben spielt, Karina Dietl kämpft sich weiter. 2022 erkrankte sie an Hautkrebs und war in Tübingen an der Uniklinik in Behandlung. Nach einer Operation erhielt sie die erste Immuntherapie. In der Folge litt sie unter schlimmsten Schmerzen.
Neben ihr lagen Menschen im Sterben
Sie war so schwach, dass sie ins Hospiz nach Singen gebracht wurde. Auf die Schnelle war kein Pflegeheim zu finden, und sie selbst wusste nicht, dass in den Zimmern neben ihr Menschen im Sterben lagen. Sie hatte sich auch noch mit Corona infiziert und wurde schwächer und schwächer.
Von den Medikamenten hatte sie Halluzinationen, sah die Wände in unterschiedlichen Farben und dachte, sie stünde nachts im Freien mit ihrem Bett. „Ich war völlig neben mir und hatte höllische Schmerzen“, erzählt sie in ihrem Berliner Dialekt. „Sie haben mich mit dem Bett durch den ganzen Laden gefahren. Und jeden Tag an die frische Luft“, sagt sie. „Das Haus atmet, es ist fantastisch. Es ist ein Haus, da können Sie nicht sterben!“

Ihre Ärztin Bettina Köhler, die sie seit Jahren betreut, glaubte zunächst nicht an eine Rückkehr nach Hause. „Sie konnte nicht mehr aufstehen und nicht mehr laufen“, erinnert sie sich am Telefon. „Aber sie sagte: Ich will nach Hause.“ Karina Dietl sei sehr lebensbejahend, differenziert und kritisch.
Zunächst war die Fachärztin für Allgemeinmedizin skeptisch, gab zu bedenken, wie schwierig es werden könne. Auch der Arzt im Hospiz sei der Ansicht gewesen, dass sie nachts nicht mehr allein sein könne, sagt Karina Dietl.
Sie blieb hartnäckig
Doch die alte Frau ließ nicht locker. Schließlich hatte sie auch die Ärztin an ihrer Seite: „Wenn sie das durchziehen will, bin ich dabei“, sagte sie sich schließlich. Seit sie 1998 ihre eigene Praxis in Ludwigshafen öffnete, hat sie noch nie eine Patientin oder einen Patienten erlebt, der aus dem Hospiz entlassen wurde.
Mit langen, großen Schlucken trinkt Karina Dietl das Wasserglas halb leer und stellt es zurück auf den Tisch. „Ich habe das Bad im Hospiz anfangs gar nicht gesehen.“ Sie wurde nur im Bett gepflegt. „Jeden Morgen habe ich geweint.“ Sie schwärmt von den Pflegerinnen und Therapeuten, die sie auf ihrem Weg in ihr häusliches Leben über ein halbes Jahr begleitet haben, mit ihr übten und trainierten.
Auch ihre Mutter, die ihr bis heute ein großes Vorbild ist, musste sich durchkämpfen. 1946 mit gerade 41 Jahren war sie in Werder an der Havel westlich von Potsdam Witwe geworden.

Karina Dietl hatte mit zwölf Jahren ihren Vater verloren, der als Chirurg im Haus der Familie seine Praxis hatte. Die Mutter vermietete die Praxisräume, um durchzukommen, bevor die Russen das Haus konfiszierten und sie sich als ungelernte Frau Arbeit suchen musste. Sie zog die vier Kinder alleine groß.
In der Forschung zeigt sich, dass eine verlässliche Bezugsperson in der Kindheit und ein starkes soziales Netz zentrale Faktoren dafür sind, in Krisen psychisch gesund zu bleiben. Resiliente Menschen neigen auch nicht zum „Katastrophisieren“, sie gehen also nicht vom Schlimmstmöglichen aus.
Karina Dietl besuchte die Städtische Oberschule für Mädchen in Potsdam. Später arbeitete sie bei gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen und kümmerte sich um die Finanzierung von Neubauten. Dass sie mit Zahlen umzugehen weiß, zeigt eine Tabelle, in der sie am Computer fein säuberlich Rente, Witwenrente und ihre Ausgaben gegenüber gestellt hat.
Ihr Kämpfen hat sich gelohnt
Das Leben zu Hause würde sie für nichts auf der Welt mehr hergeben. Langsam, leicht vornüber gebeugt, geht sie ins Schlafzimmer und zeigt ihr Pflegebett, bei dem sie Höhe, Kopf- und Fußteil komfortabel verstellen kann und das jetzt unter dem großen Wandteppich steht – anstelle des Doppelbettes, in dem sie so gerne mit Mani lag.
Jetzt schaut ihr verstorbener Lebensgefährte vom Nachttisch aus zu, wenn sie ihre Übungen mit dem elastischen Band macht, die der Physiotherapeut ihr beigebracht hat, der jede Woche vorbei kommt. „Bewegen, bewegen, bewegen ist das A und O“, sagt sie.
Manis Bild lehnt am Radio, das sie oft nachts einschaltet, wenn sie nicht schlafen kann. Auf der anderen Seite des Bettes liegt ein Stapel Bücher, darunter ein Roman von Bernhard Schlink und einer von Juli Zeh. „Das muss ich Ihnen noch zeigen“, lächelt sie verschmitzt. „Alexa, mach das Licht aus“, ruft sie. Unmittelbar erlischt die Nachttischlampe. „Alexa, mach das Licht an.“ Und schon ist es wieder hell. Die Sprachassistentin hat ein Freund ihr installiert. Nachts ist die technische Hilfe Gold wert.
Es klingelt. Ulrike Kraus vom Gastroservice Bodman kommt mit dem Essen vorbei. Wie immer bringt sie die Post und den SÜDKURIER mit.

Die beiden kennen sich gut. Im Mai hat sie das Buffet zum 90. Geburtstag vorbereitet. Karina Dietl hat groß gefeiert mit 50 Gästen, und sie hat sie alle eingeladen: Freunde, Nachbarn und Helfer, denen sie die Rückkehr nach Hause verdankt, darunter die Frauen vom Hospiz, von der Nachbarschaftshilfe, ihre Putzhilfe und ihre Ärztin Bettina Köhler.
Heute fährt sie wieder Auto und mit ihrem E-Dreirad ins Dorf. Ihr Handy liegt immer griffbereit, per Whatsapp kontaktiert sie Freunde und Bekannte. Sie hat überall Helfer und keine Scheu, jemanden um Hilfe zu bitten.
Warum Menschen in Krisen gesund bleiben
Eine von Raffael Kalischs Hypothesen, warum Menschen trotz Krisen psychisch gesund bleiben, lautet: Ihre Tendenz zu angemessenen Stressreaktionen schützt sie. Statt sich vorzustellen, was alles passieren könnte, suchen sie nach Auswegen.
Als erbliche Faktoren nennt er in seinem Buch „Der resiliente Mensch“ Intelligenz (die hilft, sich in Krisen kreativ zu verhalten), Extraversion (die Eigenschaft, soziale Bindungen zu knüpfen und auf Menschen zuzugehen) und schließlich Optimismus und damit den Glauben daran, dass alles gut wird.
Menschen, denen das Leben schon schlimm zugesetzt hat, seien psychisch meist gesünder als andere, die noch nie die Gelegenheit hatten, sich mit größeren Herausforderungen auseinanderzusetzen.
Und Karina Dietls Krebs? Über den spricht sie nicht. Eine Weiterbehandlung lehnte sie ab. Ihr geht es gut, sie spürt nichts. „Ich hatte ein wunderbares Leben und bin so dankbar dafür.“ Sie hofft, dass sie bis zuletzt bei klarem Verstand bleibt. „Freiwillig gehe ich nicht mehr in ein Krankenhaus“, sagt sie. „Ich würde gerne noch ein paar Bücher lesen. Noch zwei Jahre zu leben wären schön.“ Dann wäre sie genauso alt wie ihre Mutter, als sie starb.