Rundet man ein wenig auf, dann sind es 600.000 Freunde. So viele Einwohner haben Villingen-Schwenningen und Tula zusammen. Zwei Partnerstädte, die eine deutsch, die andere russisch, in Freundschaft verbunden. Eigentlich.
Krieg: Am 24. Februar marschiert Russland in die Ukraine ein
Am 24. Februar haben sich die Dinge verändert. Russland ist in die Ukraine einmarschiert und hat den Krieg mitgebracht. Und Panzer und Bomben und Angst. Wie könnte man mit so einem Land noch befreundet sein, fragen sich viele. Wenn Russland nicht die Friedensglocken klingen lässt, sondern den Lauf der Kalaschnikow?
Bis vor wenigen Tagen sei diese Situation undenkbar gewesen, sagt Friedhelm Schulz: Brüdervölker im Krieg. „Ein Szenario, das die Fantasie übertroffen hat.“ Das beschämt, traurig und sprachlos macht, sagt der Vorsitzende des Freundeskreises Tula in Villingen-Schwenningen. Schulz hat die Verbindung zwischen dem Schwarzwald und der Stadt in Zentralrussland mit aufgebaut. Die Freundschaft an sich sei alt, sagt er, reicht mehr als 30 Jahre zurück.
Sie wuchs 1990 aus humanitärer Hilfe, in einer Zeit der zerfallenden Sowjetunion. Damals hatten die Menschen in Villingen-Schwenningen Lebensmittel gespendet, Medikamente und Geld, um sie nach Tula südlich von Moskau zu transportieren. Schnell habe man gemerkt, man wolle mehr. Austausch in Medizin, Sprache, Kultur. Eine Städtepartnerschaft, die 1993 offiziell wurde. Als ein Beitrag zur Bekundung des Friedenswillens mit den Völkern des europäischen Ostens, insbesondere mit dem russischen Volk, so schreibt es die Stadt Villingen-Schwenningen auf ihrer Webseite.
Städte lassen Städtepartnerschaften mit Russland ruhen
Friedenswillen. Ein Wort, das heute in Anbetracht des russischen Kriegs gegen die Ukraine absurd klingt. Immer mehr deutsche Gemeinden distanzieren sich deshalb von ihren Freundschaften, die sie mit Russland haben. Baden-Baden zum Beispiel. Die Kurstadt hat ihre Städtepartnerschaft mit Sotschi am Schwarzen Meer ausgesetzt, einen Tag nach dem Angriff auf die Ukraine.

Dennoch – Freundschaften zwischen Städten haben die Grundlage für eine vereinte Welt geschaffen: „Auch wenn die politischen Beziehungen auf Eis liegen – Städtepartnerschaften ermöglichen eine direkte Kommunikation zwischen den Zivilgesellschaften“, heißt es dazu vom Deutsch-Russischen Forum, das sich seit 1993 für einen gesellschaftlichen Dialog zwischen Deutschland und Russland engagiert.
Aus einem Konflikt heraus haben sich diese Bündnisse auch entwickelt: Nach 1945 wurden die ersten Städtepartnerschaften gegründet – zunächst zwischen deutschen Städten und den der Alliierten – um die Versöhnung innerhalb Europas voranzutreiben. Mittlerweile hat Deutschland mehr als 5000 Städtepartnerschaften weltweit, 90 davon mit Russland.
Die meisten Städte halten daran fest, an diesen Partnerschaften. Trotz des Kriegs. Pforzheim gehört dazu, aber auch Karlsruhe, das eine Freundschaft mit dem westrussischen Krasnodar pflegt. Wie Oberbürgermeister Frank Mentrup betonte, sei es wichtig, die Kontakte zwischen den Menschen auch jetzt aufrechtzuerhalten.
Ein Ansatz, den Friedhelm Schulz aus Villingen-Schwenningen unterstützt. In der Realität der Städtepartnerschaften gehe es nicht um Politik. Auch in Tula sei es immer schon egal gewesen, welche politische Konstellation an der Macht sei. „In der Städtepartnerschaft geht es um zivilgesellschaftliche Aspekte.“ Um Jugend, Kultur, Sport. Hier bestehe der Austausch, „in Bereichen, in denen man mit Menschen arbeitet“.
Freundschaften mit Menschen in Russland weiterführen
So weit es möglich sei, findet er, solle man die Freundschaft nach Russland weiterführen. Es gebe Menschen, die sich öffentlich gegen den Krieg stellen, obwohl das mit vielen Risiken verbunden sei, bekräftigt er. Mit Unterschriftenlisten, Demonstrationen, aber auch mit Äußerungen in den sozialen Medien. „Ich habe persönliche Kontakte, Freunde aus Tula, die ich über viele Jahre kenne: Die sind entsetzt. Die sagen: Hat denn der Wahnsinn bald ein Ende?“
Für all diejenigen wäre es laut Friedhelm Schulz das falsche Signal, die Kontakte abzubrechen. Ihnen das zu nehmen, was sie an Beziehungen und Freundschaften in Europa haben. Das würde vielen die Hoffnung nehmen, sagt der Vorsitzende des Freundeskreises.

Auch wenn sich Städte dazu entschlossen haben, die Partnerschaften mit russischen Städten ruhen zu lassen, aufgekündigt wurde nach Informationen des Deutsch-Russischen-Forums bisher keine einzige. Man dürfe nicht die Menschen für politisches Handeln bestrafen, betont auch Jürgen Roth, Oberbürgermeister von Villingen-Schwenningen. Deshalb hält auch seine Stadt an der Partnerschaft zu Tula fest. Sie und die Freundschaften mit den Menschen existierten inzwischen seit rund 30 Jahren. „Unsere Verbindung durch gemeinsame und persönliche Erlebnisse, unsere Brücken in die Zivilgesellschaft im Sinne der Völkerfreundschaft bestehen.“ Politik also auf der einen, Freundschaft auf der anderen Seite.
In Kassel heißt es, die Kritik gelte der Staatsführung, man stehe nicht gegen das russische Volk. Das Deutsch-Russische Forum hofft darauf, dass kommunale Vertreter die Partnerschaften gerade auch mit Russland bei der sogenannten „Urban Diplomacy“, also Städtediplomatie nutzen: Dabei leisten die Städte mit einer „Außenpolitik von unten“ einen immensen Beitrag zur Verständigung der Völker und zur Wahrung des Friedens zwischen ihnen.
Menschen in Deutschland und Russland könnten sich entfremden
Würden die zivilgesellschaftlichen Beziehungen auseinanderdriften, bestehe die Gefahr dass sich Bürger in Deutschland und Russland weiter entfremden. Und damit die Gefahr einer Rückabwicklung des Versöhnungsprozesses, der gerade in den Städten und Kommunen besonders gefördert worden sei und heute, 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, immer noch werde. „Speziell in den russischen Städten ginge gerade bei denen, die den russischen Präsidenten nicht unterstützen, viel Vertrauen in die Deutschen verloren.“

2017 sei es gewesen, als Tula und der Schwarzwald das letzte große Projekt realisieren konnten. Damals, erinnert sich Friedhelm Schulz, sei es um die Spuren des Zweiten Weltkriegs gegangen. Schüler und Studenten hatten sich dazu in beiden Städten getroffen und recherchiert. Auf deutscher Seite setzten sie sich mit dem Arbeitslager für sowjetisch-russische Strafgefangene in Villingen auseinander. Auf russischer mit dem Landgut von Schriftsteller Leo Tolstoj, das die Wehrmacht fast abgebrannt hätte. Man habe das Bewusstsein schärfen wollen, sagt Schulz. Für Krieg und Frieden heute. „Umso bedauerlicher, dass wir uns jetzt, fünf Jahre später, in einer solchen Situation wiederfinden.“