„Wir haben die Grenze der Belastbarkeit erreicht“, sagt Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler. Seit diesem Jahr steigen die Zahlen der Flüchtenden wieder an, die nach Baden-Württemberg kommen. Das belastet auch die Region. Der Landkreis Konstanz weiß nicht mehr wohin mit den neu hinzugekommenen Flüchtlingen. Eine Unterkunft in Singen, die eigentlich nicht in Anspruch genommen werden sollte, muss nun doch herhalten. Der Oberbürgermeister sieht die Integration gefährdet.
Staatssekretär Siegfried Lorek kennt diese Klagen. „Es ist überall das Gleiche“, sagt er dem SÜDKURIER bei der Besichtigung einer Singener Gemeinschaftsunterkunft. Alle zwei Wochen macht er Besuche wie diese, erzählt er. Doch das Land muss seiner Pflicht nachkommen, 13 Prozent der Flüchtlinge, die in die Bundesrepublik kommen und dort bleiben, aufnehmen. „Dieser Verpflichtung werden wir nachkommen“, betont der Staatssekretär.
Das Land steht vor einem Problem: Nachdem die Flüchtlingszahlen in den vergangenen beiden Jahren zurückgegangen waren, steigen sie nun wieder deutlich an. 2020 kamen – auch corona-bedingt und durch die zeitweisen Grenzschließungen – nur 7422 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg, die blieben.
Bis Ende November zählte das Land 16.501 Direktzugänge, 13.843 stellten Asylanträge oder -folgeanträge: Damit dürfen sie vorerst bleiben. Die Zahlen stiegen seit Jahresbeginn immer weiter an, allein im November waren es mehr als 2800, die in den Südwesten kamen. Bis Jahresende, so Lorek, werden wohl wieder die Zahlen von 2017 erreicht: Damals kamen 16.860 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg.
Flüchtlinge meist aus Bürgerkriegsländern
Sie kommen zumeist aus Syrien, Afghanistan und nun auch vermehrt aus dem Irak. Im Oktober waren 23 Prozent Syrer, 16,1 Prozent Afghanen und 15,6 Prozent der Flüchtlinge Iraker. Nach Angaben des Justizministeriums bleibe die am stärksten genutzte Route jene über Italien.
Hinzu kommen aber auch Flüchtlinge aus Griechenland, die dort bereits registriert wurden, aber 90 Tage Reisefreiheit in der EU genießen. Deutschland kann von dort eingereiste Flüchtlinge aber nicht mehr ohne Weiteres zurückschicken, weil die Mindeststandards der Flüchtlingsunterbringung in dem überforderten Mittelmeerstaat nach wie vor nicht ausreichen. Schätzungen zufolge machen sie allein 4000 bis 5000 der in Baden-Württemberg ankommenden Flüchtlinge aus.
Mit der Aufnahme von afghanischen Ortskräften und anderen Hilfesuchenden aus dem von den Taliban übernommenen Land kamen weitere Flüchtlinge hinzu. Die prekäre Situation der in der Kälte ausharrenden Flüchtlinge an der Grenze zu Polen könnte mittelfristig dazu führen, dass Deutschland auch von dort Menschen aufnehmen muss.
Ausgelastete Erstaufnahmeeinrichtungen
Dabei sind die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes fast ausgelastet. 4700 Menschen sind dort aktuell untergebracht, was zwar nur einer Belegung von 75 Prozent entspricht, doch wegen Corona dürfen die Unterkünfte nicht voll ausgelastet werden. „Je voller die Unterkünfte werden, desto weiter steigt das Infektionsrisiko“, macht der Staatssekretär deutlich. Die meisten Flüchtlinge sind nicht geimpft, wenn sie nach Deutschland kommen. Grundlegende Impfungen wie Masern-Mumps-Röteln hätten dabei dann den Vorrang, mit der Coronaimpfung müsse dann zwei Wochen gewartet werden. Und genauso wie in der deutschen Bevölkerung wollen sich längst nicht alle impfen lassen.
Inzwischen hat das Justizministerium, das auch für Migration zuständig ist, die Kapazitäten für die Registrierungen wieder erhöht. Konnten bislang 80 Flüchtlinge am Tag erfasst werden, sind es inzwischen 135. Sollte es nötig werden, könnten bis zu 180 pro Tag registriert werden, so Lorek. Möglich ist das aber nur mit Hilfe von Zeitarbeitsfirmen. Zusätzlich werden landesweit die Erstaufnahmekapazitäten ausgebaut, 900 weitere Plätze sollen so eingerichtet werden. Die Wiedereröffnung der früheren Kaserne in Meßstetten (Zollernalbkreis) wird geprüft – sie diente schon einmal als Flüchtlingsunterkunft.
Das Land hat zudem einen Suchlauf über Dehoga-Betriebe gestartet, um zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten zu erschließen. In der Freiburger Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) wurde die Kapazität schon durch Container erweitert, ähnlich sollen bisherige LEA erweitert werden.
Auch Turnhallen sind eine Option
Doch von dort müssen sie auf die Stadt- und Landkreise umverteilt werden, die sie wiederum auf die Kommunen verteilen. Inzwischen gilt auch hier ein Verteilschlüssel nach Einwohnerzahl. Der Konstanzer Landrat Zeno Danner weiß um die Belastung der Stadt Singen, die bereits 350 Flüchtlinge mehr als laut Verteilschlüssel aufgenommen hat. „Wir hatten vor, die Güterstraße nicht mehr zu belegen, aber das können wir uns nicht mehr leisten“, so Danner. Häusler sind die Hände gebunden, ablehnen kann er nicht.
Der Landkreis suche derzeit nach weiteren geeigneten Objekten, betont Danner. Containersiedlungen stehen im Raum. Sicherheitshalber bereite man sich auch darauf vor, Turnhallen für die Unterbringung zu nutzen. „Das versuchen wir natürlich zu vermeiden, aber bevor wir diese Menschen gar nicht unterbringen können“, halte der Kreis die Option offen.
Integration als Herausforderung
Für Städte wie Singen bedeutet das mittelfristig mehr Menschen, die sie integrieren muss. Doch das sei schon heute schwierig, betont Häusler. In der Stadt lebten mittlerweile 51 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund, 25 Prozent seien Ausländer.
Bei den Vorbereitungsklassen für ausländische Kinder seien bei 24 Kindern bis zu 13 unterschiedliche Sprachen vorhanden: „Das kann kein Lehrer leisten“, macht Häusler klar. Schon jetzt hätten zwei Drittel der Kinder in den Schulen Migrationshintergrund, in den Kindergarten kämen viele ohne Deutschkenntnisse. Dort würden zudem die Plätze knapp, erklärt Häusler. „Unser Hauptamt ist an den Grenzen dessen, was leistbar ist“, schimpft der Oberbürgermeister.
Bei den Anschlussunterbringungen soll Singen zwar möglichst außen vor bleiben. Aber wirklich steuerbar sei das nicht, moniert Häusler. In Singen sei nun einmal eher Wohnraum verfügbar, der zudem noch bezahlbar sei.
Lösungen bringt die Begegnung mit dem Staatsekretär indes wenig. Die Flüchtlinge müssen schließlich untergebracht werden. Das gehe nur, wenn alle zusammenarbeiten, so Lorek. Häusler hofft auf die Aufnahmebereitschaft anderer Kommunen.