Die Umzugskartons sind kaum ausgepackt, da geht es für Marcel Hess auch schon auf Tour. „Gleich mache ich mit meinem Vorgänger Hausbesuche und lerne meine neuen Patienten kennen“, berichtet er. Der 37-Jährige, der zuletzt in München arbeitete, hat Anteile einer Gemeinschaftspraxis übernommen und wird nun der neue Hausarzt in der Salemer Mitte – ein echter Glücksfall für die Patienten.

Denn immer häufiger gibt es keinen Nachfolger, wenn ein Hausarzt in Rente geht – und der Kassensitz bleibt offen. Der Hausärztemangel verschärft sich auch am einst bei Ärzten beliebten Bodensee.

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Um zu messen, ob es einen Mangel gibt, unterteilt die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) den Bodenseekreis in zwei sogenannte Mittelbereiche: Überlingen und Friedrichshafen. Innerhalb dieser beiden Bereiche errechnet die KVBW die Versorgungsquote.

Im Mittelbereiche Friedrichshafen ist die Quote zuletzt unter 100 Prozent gefallen

Der Grund: Es fehlen zehn Ärzte und damit 250 Sprechstunden in der Woche.

Die Bevölkerung wächst und wird älter

Erschwerend kommt hinzu, dass die Bevölkerung am Bodensee wächst — und der Anteil alter Menschen, die tendenziell eine engere Betreuung durch ihren Hausarzt brauchen, kontinuierlich steigt.

Wird die medizinische Versorgung im Bodenseekreis demnach immer schlechter? Auf was müssen sich Patienten in Zukunft einstellen?

„Die Generation Ü60 und die Babyboomer machen 70 Prozent der Hausärzte im Landkreis aus. Wenn die in Rente gehen, wird es kaum ...
„Die Generation Ü60 und die Babyboomer machen 70 Prozent der Hausärzte im Landkreis aus. Wenn die in Rente gehen, wird es kaum Ersatz geben“, sagt Germar Büngener, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Bodenseekreis und selbst Hausarzt in Friedrichshafen. | Bild: Wienrich, Sabine

Einer, der die Antworten auf diese Fragen kennt, ist Germar Büngener, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Bodenseekreis und selbst Hausarzt in Friedrichshafen. „Man kann eigentlich gar nicht seriös berechnen, wie viele Hausärzte man braucht, um eine gute Versorgung sicherzustellen“, sagt er. Während heftiger Erkältungswellen sei es schon früher immer eng geworden. Allerdings habe sich die Situation aus verschiedenen Gründen verschärft.

„Früher war ein Hausarzt Tag und Nacht erreichbar“, sagt er, „auch wir, die Baby-Boomer-Generation, haben noch gelernt, stundenmäßig überdurchschnittlich viel und zu Lasten des Familienlebens zu arbeiten.“ Diese Zeiten seien vorbei, junge Ärzte stellten andere Ansprüche ans Erwerbs- und Familienleben.

Heißt: Selbst wenn sich ein junger Hausarzt findet, der einen offenen Kassensitz übernimmt, heißt das noch lang nicht, dass er so viel Sprechstunde anbietet wie sein Vorgänger. Zudem werde der Arztberuf zunehmend weiblich, es gebe also mehr geteilte Sitze. „Viele junge Ärzte wollen angestellt sein und können sich eine eigene Praxis gar nicht mehr vorstellen“, sagt Büngener.

Ein Blick nach Friedrichshafen macht das sehr deutlich: Die Anzahl der Ärzte ist seit Jahren konstant. Durch Teilzeitregelungen besetzen sie aber weniger Sitze.

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Eine 80-Stunden-Woche will kein Hausarzt mehr

Marcel Hess, der neue Hausarzt in Salem, wird 26 Stunden Sprechzeit anbieten. „Hinzu kommen Hausbesuche, Verwaltung, Personalverantwortung, Anträge und vieles mehr“, sagt er. Auch wenn ihm bewusst sei, dass er zu Beginn mehr arbeiten werde, will er nicht dauerhaft eine 80-Stunden-Woche.

Marcel Hess ist gerade erst aus München nach Bermatingen gezogen und steigt als Allgemeinmediziner in die Salemer Hausarztpraxis in der ...
Marcel Hess ist gerade erst aus München nach Bermatingen gezogen und steigt als Allgemeinmediziner in die Salemer Hausarztpraxis in der Neuen Mitte ein. Ein echter Glücksgriff für die Patienten in der Region, denn im Bodenseekreis sind 12,5 Hausarztsitze unbesetzt. | Bild: Wienrich, Sabine

„Wenn Work-Life-Balance und ein hoher Verdienst das Wichtigste für mich wären, würde ich nicht als Allgemeinmediziner arbeiten, sondern als angestellter Facharzt“, erklärt er. Zum Hausarzt-Dasein gehöre eine ordentliche Portion Idealismus. Denn je überlasteter das Gesundheitswesen sei, desto mehr werde den Hausärzten aufgebürdet und desto problematischer wird es für die Patienten.

Wie ist die Versorgungssituation in den Gemeinden?

Fakt ist: Zwischen den Gemeinden am Bodensee gibt es bereits heute große Versorgungsunterschiede. Während zum Beispiel in Bermatingen ein Arzt rund 4000 Patienten versorgen muss, kommt in Oberteuringen ein Arzt auf rund 1000 Patienten.

„Dieses Bild ist unscharf, da es nicht um Arztsitze, sondern die Köpfe geht“, betont Kai Sonntag, Sprecher der KVBW. Tatsächlich gibt es in Oberteuringen eine große Gemeinschaftspraxis mit mehreren, teilweise auch geteilten, Sitzen, während es in Bermatingen lediglich eine Einzelpraxis mit einem Sitz gibt. „Wir haben kein explizites Landarzt-Problem, sondern ein Hausarzt-Problem, das sich mittlerweile bis in die Städte zieht“, sagt Sonntag.

Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Stuttgart.
Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Stuttgart. | Bild: KVBW

Tatsächlich ist die Versorgungsquote in weiten Teilen von Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren gesunken, teilweise rapide.

Es wird weniger Betreuung geben

Das sieht auch Germar Büngener so: „Rund 70 Prozent der Hausärzte im Bodenseekreis gehören zu den Baby-Boomern oder sind bereits über 60 Jahre alt. Wenn die in den nächsten zehn Jahren in Rente gehen, wird es kaum Ersatz geben.“

Man müsse die Patienten darauf vorbereiten, in den nächsten Jahren weniger Arztkonsultation zu bekommen. Heißt das, Patienten werden in Zukunft schlechter versorgt? „Die Effekte sind nicht seriös absehbar“, betont Kai Sonntag von der KVBW, „denn telemedizinische Verfahren und Digitalisierung bringen andere Möglichkeiten. Zudem werden medizinische Fachkräfte deutlich besser ausgebildet und können Arztaufgaben wie Hausbesuche übernehmen.“ Aber fest stehe: den Arzt selbst bekomme der Patient eher weniger zu Gesicht als heute.

Mehr junge Ärzte an den Bodensee locken?

Mit einem Förderprogramm versucht das Sozialministerium, Ärzte unter anderem an den Bodensee zu locken. Bis zu 30.000 Euro bekommen Hausärzte, wenn sie sich in ländlichen Gemeinden in Baden-Württemberg niederlassen, deren hausärztliche Versorgung nicht oder in naher Zukunft nicht mehr gesichert ist.

Gefördert werden zum Beispiel auch die Gemeinden Salem und Bermatingen. Marcel Hess bewarb sich für das Programm – und bekam rund 10.000 Euro. Schließlich ist eine Praxis immer auch ein kleines Wirtschaftsunternehmen, eine Übernahme kostet am Bodensee schnell eine untere sechsstellige Summe. „In München hätte ich rund 400.000 Euro Kredit aufnehmen müssen, dieses hohe finanzielle Risiko wollte ich nicht“, sagt der 37-jährige Familienvater.

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Das Gesamtpaket habe in Salem einfach gestimmt. Hess ist sich sicher: Allein mit Idealismus löst sich das Problem Hausärztemangel nicht. „Es geht nur über Anreize und mehr politischer Unterstützung“, sagt er.

Drängendstes Problem ist das Personal

Das wünschen sich auch die Hausärzte im Bodenseekreis. Mittels einer Umfrage hat der Kreisärztevorsitzende Germar Büngener ergründet, welche Unterstützung sich seine Kollegen wünschen. Das sind die drängendsten Probleme:

Angesichts dessen ist sich Büngener sicher: „Ärzte in eine Region zu holen und damit die medizinische Versorgung zu sichern, ist durchaus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“