Es habe nur Sekunden gedauert, erinnert sich Siglinde Kinzler. Eben noch bemerkte sie, dass ein Autofahrer Schlangenlinien fuhr, als er schon auf die Gegenspur geriet und mit einem entgegenkommenden Auto zusammenstieß. Dieses wurde auf die andere Straßenseite geschleudert. Siglinde Kinzler hörte einen Knall und sah Rauch aus der Motorhaube aufsteigen. „Da bin ich rüber gerannt, ich dachte, die Leute müssen sofort raus“, sagt sie.
Zeitgleich erreichte Frank Bergner das Fahrzeug. „Der Mann konnte aussteigen, aber er rief immer: Meine Frau, meine Frau!“, berichtet er. Zusammen zogen sie die Frau vom Beifahrersitz und auf einen Rasenstreifen, ehe mit einem weiteren Knall das Auto in Flammen aufging.
„Die Frau lebt, weil Sie sich im richtigen Moment ein Herz gefasst haben“
Siglinde Kinzler und Frank Bergner bekommen für ihren Einsatz den Zivilcourage-Preis des Polizeipräsidiums Ravensburg und des Landratsamtes Bodenseekreis. Neben einer Urkunde erhalten sie eine Fahrt auf der Hohentwiel. „Sie haben sofort als Ersthelfer eingegriffen und konnten die Frau aus dem brennenden Auto holen“, sagt Landrat Lothar Wölfle. Polizeipräsident Uwe Stürmer ergänzt: „Die Frau lebt, weil Sie sich im richtigen Moment ein Herz gefasst haben, davor habe ich großen Respekt.“
Zehn weitere Menschen aus dem Bodenseekreis sind am Dienstag mit diesem Preis ausgezeichnet worden. Sie retteten Menschenleben, halfen bei der Überführung Krimineller oder verhinderten, dass es zu weiteren Opfern kam.

„Bei Konflikten, zu denen die Polizei gerufen wird, entscheidet sich in den ersten Minuten, ob sie gut oder schlecht ausgehen. Sie gehen gut aus, wenn Menschen so reagieren wie Sie“, lobt Stürmer. Für Täter sei das Entdeckungsrisiko entscheidend – und das steige bei aufmerksamen Mitmenschen. „Es geht nicht darum, den Helden zu spielen, sondern darum, die Augen aufzuhalten, nicht wegzusehen und richtig zu reagieren“, sagt Wölfle.
Wie das gehen kann, haben die Geehrten auf unterschiedliche Weise gezeigt. Maria Mammarella sah, wie eine Frau auf einem Zebrastreifen im toten Winkel eines Lastwagens stürzte. „Ich habe gehupt und den Fahrer auf die Frau aufmerksam gemacht, er konnte sie ja nicht sehen“, erzählt sie. Obwohl sich hinter ihr ein Stau bildete, blieb sie stehen, bis die Frau in Sicherheit war.
Jörg Herzog ging mit weiteren Helfern dazwischen, als ein Mann im Zug verprügelt wurde und hielt den Angreifer fest, bis die Polizei kam. Isabel Streif trug am Schalter einer Bank durch genaue Beobachtung, Sorgfalt und die rechtzeitige Information des Filialleiters zur Überführung eines Betrügers bei.

Durch ihr Eingreifen verhinderten die Preisträger manches Mal, dass weitere Menschen geschädigt wurden. Taxifahrer Ayvaz Dursun wehrte sich gegen einen bewaffneten und maskierten Angreifer. „Es gab keine andere Möglichkeit. Wenn ich ihn hätte schießen lassen, hätte er andere Menschen angegriffen“, sagt er.
Stürmer stimmt zu: „Ihre Kollegen können Ihnen sehr dankbar sein.“ Sabine Priebe beobachtete, wie jemand nachts über eine Leiter am Nachbarhaus hochstieg und über eine Terrassentür eintrat. Sie rief die Polizei, die den Einbrecher in flagranti überführte. „Rufen Sie lieber einmal zu viel die Polizei als einmal zu wenig“, rät dazu Polizeipräsident Uwe Stürmer.
Die Situationen, in denen Zivilcourage gefragt war, kamen stets plötzlich und waren nicht vorhersehbar. Nikolaus Diesch bereitete sein Schlauchboot für das Juniorentraining des Segelvereins vor, als die Hafenmeisterin ihn über einen Notfall informierte. Er fuhr sofort los, sprang ins Wasser und rettete den Ertrinkenden. „Es ist erstaunlich, was das Adrenalin in so einem Moment bewirkt“, sagt Diesch.
Tanja Weizel-Gelfuß und ihre Mutter Nadja Weizel retteten einen Mann aus einer brennenden Wohnung. „Es war Zufall, dass wir ein Gespräch im Auto zu Ende führen wollten. Da sah ich aus dem Augenwinkel das Feuer“, sagt Tanja Weizel-Gelfuß. Sie riefen erst die Feuerwehr und griffen dann selbst ein.

Gemeinsam ist den Geehrten, dass sie nicht weggesehen haben. Ridvan Shakiri stellte sich einem Mann in den Weg, der vor einer Polizeikontrolle weglief. Annemarie Gwinn schritt ein, als ein Jugendlicher einen anderen im Schwitzkasten hatte und würgte. „Ich kam rein in die Schule und habe gesehen, das ist gar nicht in Ordnung. Da habe ich eine Kollegin zu Hilfe gerufen und wir haben die beiden getrennt“, sagt sie.


Siglinde Kinzler konnte nach dem Fahrzeugbrand nächtelang nicht schlafen. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich das verkraftet habe“, sagt sie. Trotzdem würde sie es wieder tun. „Es ist unsere Aufgabe, zu helfen, wenn wir können.“ Sie hat vor wenigen Monaten erlebt, was geschieht, wenn niemand Verantwortung übernimmt. Sie sei morgens am Bahnhof auf eine Frau aufmerksam geworden, die in seltsamer Position auf einer Bank lag, erzählt sie. Sie habe sie angesprochen und den Notruf gewählt, als keine Reaktion kam. „Die ganze Nacht sind dort Passanten, Taxen und Busse unterwegs, aber niemand hat etwas gemacht. Ich verstehe das nicht“, sagt sie. Die Frau sei am Vormittag gestorben.