In Friedrichshafen will das Stadtwerk am See, das den Stadtverkehr betreibt, keine Stellung nehmen. "Dazu sind noch zu viele Fragen ungeklärt", sagt Pressesprecher Sebastian Dix. Das beginne schon damit, wie man den "Nahverkehr" abgrenzt und was er einschließt. Fakt wäre: Gäbe es die Fahrscheine umsonst, stiegen die Ausgaben drastisch an, während die Fahrgeld-Einnahmen wegfielen, womit das Defizit überproportional steigen würde. Die "Silberpfeile" befördern pro Jahr rund 3,7 Millionen Fahrgäste. Gratis würden deutlich mehr zusteigen. Dann reichen jedoch die heutigen Kapazitäten nicht mehr aus, so Dix. Nötig wäre ein engerer Takt auf bestehenden Linien. Dafür bräuchte man mehr Busse, mehr Personal. In der Folge müsste man über zusätzliche Linien, Haltestellen, Straßen, Busspuren nachdenken, was zusätzliche Investitionen der öffentlichen Hand nach sich zieht – ohne heute zu wissen, wer das alles bezahlen soll. Ganz abgesehen davon: "Eine kurzfristige Umsetzung solcher Pläne ist nicht möglich", sagt der Stadtwerk-Sprecher.

Klaus Karnetzky: "Generell halte ich das für eine gute Idee. Nutzen würde ich den Bus deshalb trotzdem nicht. Ich fahre lieber mit dem ...
Klaus Karnetzky: "Generell halte ich das für eine gute Idee. Nutzen würde ich den Bus deshalb trotzdem nicht. Ich fahre lieber mit dem Fahrrad, da bin ich flexibler." | Bild: Sandro Kipar

"Die Umsetzung dieser Idee wäre nichts weniger als ein Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik in Deutschland", holt Kreissprecher Robert Schwarz weiter aus. Der ÖPNV hätte damit einen deutlich höheren Stellenwert auf der Prioritätenliste dessen, was sich die Gesellschaft leisten möchte. Allerdings mit der Konsequenz, dass andere Themen auf dieser Liste weiter nach unten rutschen. Es gehe dabei auch nicht "nur" um den Ausgleich der wegfallenden Fahrgeldeinnahmen. Der kostenlose Nahverkehr würde eine Dynamik in Gang setzen, die eine ganze Reihe von Fragen aufwerfe, so Schwarz aus der Sicht des Landkreises. So seien viele Linien und Angebote des regionalen Verkehrsverbundes Bodo bereits heute an der Kapazitätsgrenze, etwa die Bodenseegürtelbahn oder die Seebuslinie. "Ohne massive Investitionen in die Infrastruktur wäre hier also kaum etwas zu gewinnen." Derzeit gibt der Landkreis rund 2,3 Millionen Euro jährlich für den ÖPNV aus inklusive solcher Projekte wie Emma oder Nachtbusse. Mit einem Anteil von 900 000 Euro subventioniert der Kreis allein die Schülerbeförderung.

Helena Riedel: "Die öffentlichen Verkehrsmittel sind die einzig sinnvolle Art und Weise, sich über weite Strecken ökologisch ...
Helena Riedel: "Die öffentlichen Verkehrsmittel sind die einzig sinnvolle Art und Weise, sich über weite Strecken ökologisch fortzubewegen. Allerdings brauch es neue, moderne Ansätze in der Infrastruktur." | Bild: Sandro Kipar

Nach Angaben von Bodo müssten für ein vollständig kostenloses ÖPNV-Angebot im Bodenseekreis zirka 40 Millionen Euro an Fahrgeldern von der öffentlichen Hand abgefangen werden. Dazu kämen nach einer ersten, überschlägigen Schätzung mindestens zehn bis 20 Millionen Euro für die notwendige Verstärkung des bestehenden Schienen- und Busnahverkehrs.

Ein solches Gratisangebot dürfte auch nach Einschätzung von Bodo zusätzliche Fahrgäste bringen. Wie viele, ließe sich heute nicht seriös voraus sagen. Für die Erschließung von Pendlerströmen abseits der gut ausgebauten ÖPNV-Linien im Kreis müssten auf jeden Fall weitere Verbindungen geschaffen werden, deren Finanzierung völlig ungeklärt ist und die aus dem Stehgreif kaum zu beziffern sei. "Klar ist aber, dass ohne Ausbau des Angebots die zusätzliche Nachfrage nicht ausreichend bedient werden könnte", teilt Bodo auf Anfrage mit. Viel mehr müsste damit gerechnet werden, dass sich die Beförderungsqualität für Bestandskunden sogar verschlechtern würde, beispielsweise durch Kapazitätsengpässe, Verspätungen und sehr volle Fahrzeuge

Hans-Martin Bühler: "Unsere Infrastruktur packt das mit dem Nahverkehr nicht. Vor allem in unserer Region ist man auf das Auto angewiesen."
Hans-Martin Bühler: "Unsere Infrastruktur packt das mit dem Nahverkehr nicht. Vor allem in unserer Region ist man auf das Auto angewiesen." | Bild: Sandro Kipar

Das alles bedeute nicht, so Kreissprecher Schwarz, dass diese Denkrichtung grundsätzlich falsch sei. "Das ist eine Entscheidung, die die Politik treffen muss." Voraussetzung dafür wären allerdings Vorarbeiten, "deren Ergebnis wir heute noch nicht kennen". Allerdings verweist der Kreissprecher darauf, dass es schon Beispiele gebe, die für die politische Diskussion richtungsweisend sein könnten. Er nennt das Konzept des Bodensee-Nachbarn Vorarlberg. Dort kann jedermann für rund 1 Euro pro Tag nahezu alle Busse und Bahnen im Nahverkehr nutzen. Die Jahreskarte des Verkehrsverbunds Vorarlberg (VVV), die 2014 eingeführt wurde, kostet 370 Euro und 195 Euro für unter 26-Jährige. Zum Vergleich: Eine Schülerfahrkarte bei Bodo kostet doppelt so viel. Rund 66 000 Vorarlberger sind mit Jahreskarte unterwegs, jeder fünfte Einwohner im Nachbar-Bundesland. Ein attraktiver ÖPNV funktioniert offenbar auch, wenn es die Tickets nicht gratis gibt – wenn das Angebot stimmt.

Ingeborg Schlichtig: "Ich finde die Idee gut, grade für Rentner. Selbst würde ich den Bus dann auch mehr nutzen. Gegen Abend wird das ...
Ingeborg Schlichtig: "Ich finde die Idee gut, grade für Rentner. Selbst würde ich den Bus dann auch mehr nutzen. Gegen Abend wird das dann allerdings schwierig: Ich wohne am Krankenhaus, der letzte Bus fährt da um 20 Uhr." | Bild: Sandro Kipar

 

Erfahrungen gibt es

Praktische Erfahrungen mit dem kostenlosen Nahverkehr gab oder gibt es beispielsweise in den Städten Hasselt (Belgien), Tallinn (Estland), Zory und Laziska Gorne (Polen), Seattle und Portland (USA) oder Templin und Lübben (Brandenburg). Nach Einschätzung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sei der zum Teil erhebliche Fahrgastzuwachs in Klein- und Mittelstädten besonders positiv zu werten. In Tallinn stieg zwar der ÖPNV-Anteil ein Jahr nach der Einführung des kostenfreien Nahverkehrs um 14 Prozent, aber der private Pkw-Besitz sank nur um fünf Prozent. (kck)