Thomas Kapitel

Der erste Arbeitstag in der neuen Firma am Bodensee. Alleine mit dem Tablett in der Hand in der Kantine. Niemand, den man kennt. „Jetzt hock di halt na!“ ruft es von einem Tisch. Der Neue – nennen wir ihn Christian – stutzt: Wie bitte, ich soll hier in die Hocke gehen? Vor allen Leuten? Ist das ein seltsames Aufnahme-Ritual hier im Süden?

Oh nein: Es ist die freundliche Aufforderung, sich dazuzusetzen. Wenn ein Süddeutscher „hockt“, dann sitzt er gemütlich und gesellig. Erste Frage am Tisch: „Und, vermisch du dei Norddeitschland scho?“ Christian fragt sich noch, was er hier „vermischen“ soll, während sich zwei der neuen Kollegen uneins sind, ob es jetzt korrekterweise „hock di na“ heißt oder „hock di hi“. Ein Friedrichshafener und ein Uhldinger, wie sich bald herausstellt.

Und dann gibt es auch noch Unterschiede

Christian wird bald merken, dass der Unterschied zwischen See-Alemannisch und Oberschwäbisch nicht gravierend ist. Auch wenn sich die „Badenser“ und die „Württemberger“ am See damit stundenlang gegenseitig frotzeln können. Für Außenstehende hat die westliche Variante etwas mehr Singsang in der Sprachmelodie und benutzt lange Vokale anstelle von Doppelvokalen: Die „Maus im Haus“ wird hier zur „Muus im Huus“.

Alemannische Dialekte sind sie beide; die Mentalität ist weitestgehend dieselbe: herzlich, lustig, etwas „hagebüchen“. Und doch weltoffen: In einem Dreiländereck, durch das seit der Römerzeit die Handelsrouten führen, ginge das auch gar nicht anders.

Wer hier schreibt und spricht

Thomas Kapitel
Thomas Kapitel | Bild: Privat

„Seckel“ muss keine Beleidigung sein, lässt sich als solche aber steigern

Und während unser Christian so „hockt“, prasselt auf ihn ein, was schon viele Generationen „Zugereister“ hier am See erlebt haben, seit Graf Zeppelin und seine Mitstreiter hier zu Kaisers Zeiten attraktive Arbeitsplatz-Magneten für Ingenieure, Manager und Facharbeiter, die schon immer schon gerne aus dem Norden ans „Happy End von Deutschland„ zogen, schufen. Sie alle bekamen von den Alt-Eingesessenen erklärt, wie hier die Kraftausdrücke funktionieren und wie sie zu verstehen sind. Wenn dabei mal einer den anderen „du Seckel„ nennt, ist das noch nicht mal als Beleidigung aufzufassen.

Ob man Seggl oder Seckel schreibt, bleibt sich gleich: Schimpfwörter aus der Bodenseeregion und mehr gibt‘s auf dem ...
Ob man Seggl oder Seckel schreibt, bleibt sich gleich: Schimpfwörter aus der Bodenseeregion und mehr gibt‘s auf dem Schwäbisch-alemannischen Mundartweg auf dem Höchsten zu erkunden. | Bild: Thomas Kapitel

Höchste Anerkennung: „Koin Seckel„

Fangen wir also gleich beim deutlichsten Schimpfwort an. Der „Seckel“ ist immer männlich, bezieht sich das Wort doch deutlich auf ein primäres Geschlechtsmerkmal. Je nach Gesprächssituation kann der „Seckel“, wenn er alleine steht, auch scherzhaft oder gar anerkennend gemeint sein, wie der „Motherfucker“ im Amerikanischen. Generell aber gilt, besonders unter Kollegen: „Mit ma Seckel ka‘sch it schaffa“, was hierzulande schon fast an Mobbing grenzt. Achtung: Der „Seckel“ ist steigerbar, wird über den „Schoofseckel“ zum „Granata Seckel“ und damit zur heftigsten Beleidigung. Höchste Anerkennung ist, wenn einer „koin Seckel“ ist. Ganz nach dem schwäbischen Motto: „It g‘schumpfa isch g‘lobt g‘nueg“.

Bei Kraftausdrücken drohen Fettnäpfchen

Diese Feinheiten muss man schon kennen. Deshalb der dringende Rat an unseren Christian: Wer sich Freunde schaffen will, indem er ihre Kraftausdrücke benützt, tritt schnell in Fettnäpfchen, wenn er sie in unangemessenem Rahmen verwendet. Dies gilt insbesondere für die weiblichen Pendants des Seckels. Hier wird gerne eher die Tierwelt zitiert, aber ebenfalls mit Attributen gesteigert und, wie woanders auch, nach der Tiergröße.

Beim Nutzvieh wird‘s deftig

Ist das „Mäusle oder Spätzle“ noch fürs Schlafzimmer reserviert, wird‘s spätestens beim Nutzvieh deftig. Eine „Henn“ an sich geht ja noch, aber „daube Henn“ ist schon heftiger. Das Attribut steht hier nicht für Gehörlosigkeit, sondern für Faulheit und Dummheit. Mit „daube Kuah“ und „daube Sau“ sind wir dann auch schon fast am oberen Anschlag. Aber nur fast: „Bichs“ (Büchse) und „Schella“ (Schelle) sind eindeutig sexuell abwertend und deshalb in diesem Leben zu vermeiden; „daube Schella“ ist sogar todeswürdig.

„Fiaß“ reichen weit nach oben

Wo wir schon bei Körperteilen sind: Hier steckt das Schwäbisch-Alemannische voller Fallstricke. Der Fuß etwa reicht hier bis zum Oberschenkel. Wenn eine Frau also „scheene Fiaß“ hat, geht sie nicht unbedingt barfuß. Mit „Grind“ oder „Grend“ ist keine Krankheit gemeint, sondern der Kopf: „Streng amol dein Grend aa“ ist eine Aufforderung zum Nachdenken. Mit „Griffel“ sind die Finger gemeint und wer damit ungeschickt ist, drückt mit seinem „Doopern“ zwei Computertasten gleichzeitig. Ein „Dooper“ kann aber auch ein fettiger Fingerabdruck auf dem Bildschirm oder der Brille sein.

Viertele, Viertel und Woiza

Maßeinheiten sind auch so eine Sache. Der Wein wird hier in „Viertele“ ausgeschenkt – auch wenn es immer öfter 0,2 statt 0,25 Liter sind –, das Bier in „Halbe“ (0,5 Liter). Wer ein „Glas“ Wein oder Bier bestellt, bekommt immer die kleinere Variante (0,125 beziehungsweise 0,3 Liter) und darf sich nicht wundern. Weißbier heißt hier „Woiza“, am liebsten in der Variante „Hefewoiza“. Mit der Zeit ist‘s eh schwierig im Südwesten: „Viertel Achte“ heiß Viertel nach Sieben, „Dreiviertel Achte“ heißt Viertel vor Acht.

Bild 3: Wohl dem, der „koin Seckel isch“: Ein kleiner Bodensee-Dialektkurs für Reig‘schmeckte – mit Hörproben!
Bild: Thomas Kapitel

Gute und nicht so gute Smalltalk-Themen

Wer sich beliebt machen will, sollte auf die Aussprache der Ortsnamen achten: Man sagt „Friddrichshafen“ mit ganz kurzem „i“ und der Betonung vorne. „Immenstaad“ hat die zwei aa nicht umsonst: Immer auf der letzten gedehnten Silbe betonen. Und Konstanz heißt „Konschdanz“, mit dem genüsslichen Zischer in der Mitte. Gute Smalltalk-Themen: Die Häfler Bundesliga-Volleyballer, Obst- und Weinbau, Skifahren, Bergwandern, Segel- und Motorboote (wir sind halt schon eine gesegnete Freizeit-Region). Eher zu vermeiden ist die künftige Trassenführung der B 31.

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Generell gilt: Wir vom Bodensee sind keine „Fernseh-Schwaben“ wie die aus dem Raum Stuttgart. Wir sind freigiebig und lebensfroh, waren wir doch seit dem Mittelalter allesamt unter österreichischer Regentschaft, bis uns Napoleon zwangsweise an Baden und Württemberg zugewiesen hat. Das erklärt, warum wir hier zumeist katholisch sind und mit Allgäuern und Bayern, ja sogar Südtirolern mehr gemeinsam haben als mit Esslingern und Heilbronnern. Und wir sind gastfreundlich. Wenn unser Christian also auf dem nächsten „Dorf-Hock“ ein „Hock di her!“ hört, weiß er, dass er „koin Seckel“ ist.

Auch wer sich in Schwaben verliebt und mit Kommunikationsproblemen kämpft, findet auf dem schwäbisch-alemannischen Mundartweg auf dem ...
Auch wer sich in Schwaben verliebt und mit Kommunikationsproblemen kämpft, findet auf dem schwäbisch-alemannischen Mundartweg auf dem Höchsten Hilfe. | Bild: Thomas Kapitel

(Dieser Artikel wurde erstmals im November 2019 veröffentlicht.)