Manchen Menschen wurde der Berufswunsch schon in die Wiege gelegt. Das war vermutlich auch bei Gerold Ehinger so. Schon in jungen Jahren betreute er in der Katholischen Jungen Gemeinde (KJG) in seinem Geburtsort Markdorf Kindergruppen und gestaltete Freizeiten. So sehr faszinierte ihn die Arbeit mit jungen Menschen, dass er sich nach dem Zivildienst bei der katholischen Kirchengemeinde und einem Praktikum in einer Heimsonderschule für die Sonderpädagogik entschied. Grundständig gab es diesen Studiengang damals noch nicht und die Sonderpädagogik steckte noch in den Kinderschuhen. Das Dritte Reich hatte „behindertes“ Leben weitgehend ausgelöscht, geblieben war die Scham, ein solches Kind zu haben.
Nach einem Grund- und Hauptschulstudium in Schwäbisch Gmünd musste Gerold Ehinger für das entsprechende Aufbaustudium nach Reutlingen gehen. Als ihn das zu absolvierende Blockpraktikum an die Tannenhag-Schule nach Friedrichshafen führte, prophezeite ihm der damalige Schulleiter Gerhard Binder, dass er eines Tages sein Nachfolger werden würde.
1998 kam die Chance zum Wechsel an die Tannenhag-Schule
Nach vier Jahren in Maulburg an einer Schule für Kinder mit körperlicher und geistiger Einschränkung wechselte Gerold Ehinger nach Salem-Buggensegel an die Sonnenberg-Schule, bis sich 1998 die Möglichkeit bot, an die Tannenhag-Schule zu kommen. Schon damals ging es Gerhard Binder gesundheitlich nicht mehr gut und Ehinger wurde zur Unterstützung ins Schulleiterteam berufen. Als Binder viel zu früh verstarb, wurde Ehinger 2002 an der Seite von Karl-Heinz Vogt zum Konrektor ernannt.
Anfangs 80 Schüler in elf Klassen
Die Schule war damals klein. Im einstöckigen Gebäude waren elf Klassen untergebracht, das Kollegium betreute höchstens 80 Schüler, wie sich Gerold Ehinger zurückerinnert. 1964 hatten Eltern die Lebenshilfe Friedrichshafen gegründet, um eine angemessene Betreuung ihrer Kinder einzufordern. Ein Jahr später sah das Schulverwaltungsgesetz des Landes erstmals eine Schulpflicht auch für behinderte und bildungsschwache Kinder vor.
Die Tannenhag-Schule für Kinder mit geistiger Einschränkung wurde 1976 eröffnet. Als er dort eingetroffen sei, habe die Schule dem entsprochen, was damals üblich war, sagt Gerold Ehinger. Denn anfänglich habe man geglaubt, die Kinder in erster Linie beschäftigen, beaufsichtigen und zu einfachen Tätigkeiten führen zu müssen. Erst später seien Bildungspläne erstellt worden und in Reutlingen konnten sich ausgebildete Erzieher weiterqualifizieren.
Erziehung zur Selbstständigkeit war noch nicht vorgesehen
Eine Erziehung der Kinder zur Selbstständigkeit sei noch nicht vorgesehen gewesen. Es wurde auswendig gelernt und Mathematik beschränkte sich auf Farben, Formen und sehr einfache Rechenaufgaben. Der gesamte Lebensweg der jungen Menschen sei vorgeplant und fremdbestimmt gewesen. Hatten sie die Schule abgeschlossen, ging es für sie ins Wohnheim von Pfingstweid oder Liebenau, um dort in den Werkstätten zu arbeiten. Nach ihren eigenen Wünschen seien die Schüler nicht gefragt worden.
So wie Eltern einst ihre Kinder mit Behinderung aus Scham versteckten, so lag die Tannenhag-Schule hinter hohen Fichten und Tannen, isoliert und unsichtbar. So erlebte es der Schulleiter. Das sollte sich ändern. „Wir wollten den Sport und den Schwimmunterricht anders organisieren“, erinnert sich Ehinger und integrierte die Kinder in den öffentlichen Badebetrieb. Das Ziel war, dass die Schüler lernten, später in ihrer Freizeit selbstständig ins Hallenbad zu gehen. Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln inklusive.
Team wollte Schüler aus der Unsichtbarkeit holen
Gerold Ehinger erinnert sich: „Aufgabe unserer Schule wurde, die Schüler aus der Unsichtbarkeit zu holen.“ Eine Änderung der Sozialgesetzgebung im Jahr 2001 gestand den Menschen endlich mehr Selbstbestimmung bezüglich ihrer Wohnform und ihrer Arbeit zu. Der scheidende Schulleiter erzählt, wie es das Schulteam von da an den Schülern ermöglichte, Praktika in den Werkstätten und in Fischbacher Handwerksbetrieben zu machen und in einer Trainingswohnung der Schule das selbstständige Wohnen zu üben. Sollten die Jugendlichen später eine Familie gründen und arbeiten gehen, musste das bereits im Kindergarten vorbereitet werden. Verantwortung übernehmen, Aufgaben erfüllen, zuständig sein – das waren die neuen Lernziele. Zu den Kernkompetenzen zählten jetzt Fahrpläne lesen, einkaufen gehen und kommunizieren können.
Auch das Schulhaus in Fischbach musste sich verändern. Zwischen 2006 und 2008 wurde das Gebäude angebaut und aufgestockt, die Fassade wurde mit bunten Fensterrahmen gestaltet und die Bäume wurden gefällt. Die Schule war gut und wollte sich präsentieren, wie Gerold Ehinger erzählt.
2008 übernimmt Ehinger die Leitung der Schule mit 140 Schülern
2008 erfüllte sich die Prophezeiung des früheren Schulleiters Gerhard Binder. Als Karl-Heinz Vogt in den Ruhestand ging, wurde Gerold Ehinger zu dessen Nachfolger ernannt. Inzwischen war die Schule auf 140 Schüler angewachsen, stieß an die Grenze ihrer Kapazität und Klassen mussten an andere Standorte ausgelagert werden. Eine organisatorische Herausforderung, wie Ehinger sagt.
Der Schulleiter, der sich Ende Juli mit 65 Jahren in den Ruhestand verabschieden wird, sitzt in seinem kleinen, bescheidenen Büro, in dem er seinen Arbeitsplatz seit 2002 eingerichtet hat. Er ist stolz auf sein hoch motiviertes Kollegium und das, was sie zusammen geleistet haben. „Heute können wir sagen, wir finden für jeden Schüler einen Platz in seinem späteren Leben, auf den wir ihn gut vorbereitet haben.“ Auch wenn er sich jetzt darauf freut, mehr Zeit mit seinen eigenen Kindern und den Enkelkindern zu verbringen, sagt er: „Für mich gab es nichts Schöneres, als hier zu arbeiten.“