Tim Kriegler hat‘s geschafft. „Ich warte schon so viele Jahre darauf“, sagt der 25-jährige Artist, der in Friedrichshafen aufgewachsen ist. In der Grundschule – an der Bodensee-Schule in Friedrichshafen – entdeckte er die große Welt des Zirkus für sich. Seitdem träumt er von einem Engagement beim Cirque du Soleil, dem weltberühmten Zirkus der Sonne. Am 7. Dezember feiert „Twas The Night Before“ am Theater in Chicago Premiere. Mittendrin in der zweistündigen Weihnachtsshow ist Tim Kriegler an den Strapaten – in der Luftakrobatik verwendete Bänder, die an oder dicht unter der Decke befestigt sind.
Hinter dem jungen Mann liegen sechs harte Trainingswochen in Montreal. In Kanada hat das internationale Zirkus-Unternehmen sein Hauptquartier. Von der Größe und Professionalität des Sets ist der Artist schwer beeindruckt. Hier werden die neuen Shows vorbereitet, die weltweit die Menschen in ihren Bann ziehen. Mehr als 15 Produktionen laufen aktuell auf fast jedem Kontinent. Kollegen aus Deutschland könne er an einer Hand abzählen, erzählt der Häfler.
Akrobatische Meisterklasse reicht nicht
Ein Engagement beim Cirque du Soleil? Da reicht akrobatische Meisterklasse nicht aus, da braucht es auch Glück. Die Silbermedaille beim „Cirque de Demain Festival“ in Paris 2018 war ein erster Türöffner, ist das doch der bedeutendste Wettbewerb für junge Artisten bis 25 Jahre. „Seitdem bin ich in deren Datenbank“, weiß Tim Kriegler. Zwei Jahre später gewann er unter den Newcomern dann auch noch den Silbernen Clown beim Zirkusfestival in Monte Carlo. Trotzdem gab‘s vorerst keine Eintrittskarte für den Cirque du Soleil. „Die Konkurrenz ist riesig“, sagt er.
Umso überraschter war der 25-Jährige, als im Oktober aus heiterem Himmel die Anfrage des Castings kam, ob er Interesse hätte, als Kandidat für eine Show vorgestellt zu werden. Normalerweise gebe es mehrere Vorauswahlrunden. Was für eine Frage! „Vier Tage später hatte ich das Angebot. Und noch eine Woche später war ich schon in Montreal“, erzählt Tim Kriegler vom rasanten Abflug gen Kanada. Er überzeugte die künstlerische Leitung der Weihnachtsshow in Chicago, die dort ein Klassiker ist.
Training nach Stundenplan
Seither hat der 25-Jährige wieder einen durchgetakteten Stundenplan. In Montreal standen montags bis samstags täglich acht Stunden Training auf dem Programm. Damit die Show bis ins letzte Detail den hohen Ansprüchen gerecht wird, braucht er hier mehr als sein artistisches Können an den Strapaten. „Das Make-up zum Beispiel muss jeder selbst machen“, verrät er am Telefon und lacht. Mit Schminken hatte er es vorher nicht so.
Die größte Herausforderung wird dennoch die körperliche Beanspruchung sein. Das Gastspiel in Chicago dauert drei Wochen. „Da laufen öfters auch mal drei Shows am Tag. Wir müssen bei jeder abliefern, und das auf demselben Niveau“, erzählt er. Fünf bis sechs Mal pro Termin muss er auf die Bühne, im Schneegestöber aus Papierschnitzeln meterhoch über dem Boden fliegend beeindruckende Posen zeigen, Kraft und Beweglichkeit demonstrieren.
Mit dem Fuß in der Tür
Und doch kommt Tim Kriegler aus dem Schwärmen nicht heraus, wenn er von seinen bisherigen Erfahrungen im Zirkus der Sonne berichtet. Von der Professionalität in jeder Hinsicht bis zur Bezahlung ist er mehr als angetan. „Ich genieße das Ganze“, sagt er. Wohl wissend, dass im Januar dieses Engagement erst einmal beendet sein wird und möglicherweise viel Geduld nötig ist, bis sich diese Tür vielleicht noch einmal öffnet. „Es hilft auf alle Fälle, wenn man schon mal mit den Leuten hier gearbeitet hat“, sagt der 25-Jährige.
Auch wenn er einiges umdisponieren musste, um für den Cirque du Soleil auf der Bühne zu stehen, hätte er sich nie anders entschieden. „Manche Gelegenheiten muss man einfach nutzen.“ Ohne diese Einstellung hätte der 25-Jährige seinen Weg in die große, weite Zirkuswelt nicht mit diesem Erfolg gehen können. Ein Weg, der schon mit 14 Jahren von zuhause und seinem Zwillingsbruder weg nach Berlin führte, um neben dem Abi Artist zu werden. Um einen Beruf zu lernen, den er nur ein paar Jahre machen kann, weil er dem Körper – nur an zwei Bändern hängend – alles abverlangt.
Aber auch ein Beruf, der jedes Jahr neue Überraschungen bereit hält.