Seine Fußgelenke stecken in den Schlaufen zweier Bänder, die von der Decke hängen. Kein Kontakt zum Boden. Tim Kriegler geht in den Männerspagat, freihändig. Er beginnt sich zu drehen, rotiert um die eigene Körperachse und schwebt nach oben, immer höher. Erst in schwindelerregenden 16 Metern über dem Boden stoppt der Motor, der die Strapaten – so heißen die Bänder – hoch zieht. Noch ein paar Umdrehungen, dann lässt sich der 22-Jährige kopfüber fallen, pendelt den Körper aus. Ohne Netz, ohne schützende Matten.

Die Nummer ist waghalsig und wunderschön zugleich. Und sie hat die Zirkuswelt begeistert. Tim Kriegler, der an der Bodensee-Schule in Friedrichshafen die Artistik für sich entdeckte, gewann 2018 beim „Cirque de Demain Festival“ in Paris die Silbermedaille. Da hatte er gerade sein Diplom von der Staatlichen Artistenschule in Berlin in der Tasche.

Silbermedaille beim Zirkusfestival

Eine kleine Sensation, denn kaum ein deutscher Artist konnte bisher bei dem bedeutendsten Wettbewerb für junge Artisten bis 25 Jahre vorn landen. „Ich war mutig genug, es zu probieren. Aber ich habe nie damit gerechnet, überhaupt dabei sein zu dürfen“, sagt der 22-Jährige rückblickend. Es war der erste Erfolg, der ihm viele Türen öffnete. Der zweite folgte ein Jahr später, als er bei den Newcomern den Silbernen Clown beim weltweit größten Zirkusfestival in Monte Carlo gewann. Die Trophäe überreichte ihm Prinzessin Stefanie von Monaco persönlich.

Auch in New York war Tim Kriegler bereits artistisch unterwegs, hier vor der Brooklyn Bridge.
Auch in New York war Tim Kriegler bereits artistisch unterwegs, hier vor der Brooklyn Bridge. | Bild: Insirchof

Seither lebt er so, wie er sich das Leben als freier Artist immer vorgestellt hat. „Das Festival war der Startschuss. Seither ist alles spannend und aufregend“, erzählt der junge Mann, der aus Meckenbeuren kommt, und einen Zwillingsbruder hat, der völlig andere Wege geht.

„Ich bin zu Hause, wo ich gerade bin“

Vor einem halben Jahr hat er seine Wohnung in Berlin aufgegeben, weil er sowieso kaum noch da, beruflich nonstop unterwegs war. „Keine Wohnung mehr zu brauchen war mein Ziel“, erzählt Tim Kriegler, der nun buchstäblich aus dem Koffer lebt. „Ich bin frei und da zu Hause, wo ich gerade bin“, sagt der junge Mann, der vermutlich den Traum vieler Altersgenossen lebt – vielleicht abgesehen von den drei Stunden hartem Training täglich, um den Körper fit zu halten.

Frei schwebend in sechs oder 16 Metern Höhe: Tim Kriegler liebt seinen Job.
Frei schwebend in sechs oder 16 Metern Höhe: Tim Kriegler liebt seinen Job. | Bild: Ralf Mohr

2019 verlief so: Ein paar Monate in Australien mit einer Show auf der Bühne, zwei Wochen Urlaub auf Bali, dann ein Lehrauftrag an einer Zirkusschule in Sydney – sein zweites Standbein. Im Juni folgte ein Abstecher nach Deutschland, dann ein Engagement in London. Im Anschluss wieder zwei Wochen Unterricht als Lehrer in New York. Im Herbst ging es zurück nach Deutschland. In Münster spielt Tim Kriegler ab November in einer Variete-Show, die wie ein Theaterstück inszeniert ist, einen krebskranken Jungen, der sich im Krankenhausalltag in eine Fantasiewelt flüchtet. Mit dem Stück steht er aktuell in Essen auf der Bühne, bis zu acht Mal pro Woche.

Tim Kriegler nach der Premiere auf der Variete-Bühne in Essen mit Werner Buss, dem künstlerischen Leiter des GOP-Theaters.
Tim Kriegler nach der Premiere auf der Variete-Bühne in Essen mit Werner Buss, dem künstlerischen Leiter des GOP-Theaters. | Bild: Ralf Mohr

Kurz nach Weihnachten 2019 war Tim Kriegler ein paar Tage zu Hause bei seiner Familie. Am 26. Dezember kam es in der „Caserne“ in Friedrichshafen tatsächlich zu seinem ersten Auftritt in der Heimat. „Mit dem Andrang hätte ich nie gerechnet“, freut er sich immer noch über den proppevollen Saal, der an diesem Abend dreimal so groß hätte sein müssen, um allen Gästen Eintritt zu gewähren, die zuschauen wollten.

Mit 14 in die Artistenschule

Tim Kriegler war „Special Guest“ bei der Benefizshow der Zirkusakademie von Andrea Sprenger. Vor knapp 15 Jahren lernte er bei ihr in der Zirkus-AG der Bodensee-Schule als Grundschüler die ersten Kunststücke – und verbrachte bald darauf fast jede freie Minute beim Training. Als die Zirkuslehrerin dem Eleven eine junge Frau vorstellte, die an der Artistenschule in Berlin ihr Hobby zum Beruf machen will, war für Tim Kriegler klar: „Das will ich auch.“

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Nur: Der Fünftklässler wünschte sich das drei Jahre zu früh. Bis er sich endlich bewerben durfte, habe er nur noch daran gedacht, erzählt er. Deshalb fiel der Abschied auch nicht schwer, als er mit 14 Jahren die Aufnahmeprüfung bestand, nach Berlin und ins Internat ging, um neben dem Abi die Artistenausbildung zu absolvieren, was vier bis fünf Stunden Training pro Tag bedeutete.

Die Ästhetik des Fliegens

Hier lernte der eher schüchterne junge Mann auch, im Rampenlicht zu stehen. „Ich muss nicht der Mittelpunkt sein, aber das gehört zum Beruf“, sagt er lachend. Tim Kriegler sieht sich weniger als Artist, mehr als Künstler, der gern Teil einer Show ist, die eine Geschichte zu erzählen hat. Die Strapaten hat er gewählt, weil er die Ästhetik des Fliegens mag, die er – nur an den Bändern hängend – vermitteln kann. „Ein schlichtes, simples Gerät, das aber eine hohe Dynamik bietet“, sagt Tim Kriegler. Luftäquilibristik dieser Güte braucht enorme Kraft, Beweglichkeit, Gleichgewichtssinn und man darf keine Höhenangst haben.

Helene Fischer auf dem Schoß

Manchmal wird ihm aber doch schwummrig. So wie bei den „Schlagerchampions“ 2018, als Helene Fischer bei der TV-Liveshow zur Hälfte auf seinem Schoß und auf dem des zweiten Artisten saß, während sie an den Strapaten hingen. Bis auf acht Meter hoch flog das Trio, während die Künstlerin sang. „Das war ziemlich riskant“, sagt Tim Kriegler.

22-Jähriger will die kommenden Jahre genießen

Und wie geht‘s weiter? „Am liebsten so wie bisher“, wünscht sich der 22-Jährige. Kreuz und quer auf der Welt unterwegs sein, gesund bleiben, für tolle Shows und große Namen arbeiten. Endlos lässt sich dieses Artistenleben so nicht führen, weiß Tim Kriegler. Doch diese Jahre will er auskosten.