Seit Tagen hängt Elvira Müller am Handy. Liest Nachrichtenticker, chattet und telefoniert mit Menschen aus Polozk, der ältesten Stadt Belarus, oben im Norden, nahe zu Russland. Seit 1990 ist Polozk Partnerstadt von Friedrichshafen und Elvira Müller als Gründungsmitglied des Freundeskreises Polozk eng mit den Menschen vor Ort verbandelt. Die Vereinsvorsitzende spricht flüssig russisch, das macht die Kommunikation einfacher.

„Wir haben es alle nicht glauben wollen“, sagt sie am Donnerstagnachmittag, wenige Stunden, nachdem Putins Angriff auf die Ukraine bekannt wurde. Ihre Gedanken sind heute bei den Menschen – in der Ukraine, aber auch in Polozk, Belarus, das knapp 400 Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze liegt.

Bild 1: "Sie wollen ihre Söhne nicht in den Krieg schicken." Elvira Müller vom Freundeskreis Polozk zur Lage
Bild: Kerstan, Stefanie

Krieg – was bei vielen Friedrichshafener nur in Erzählungen von Großeltern existiert, ist bei den Polozkern deutlich präsenter – auch schon vor dem Russland-Ukraine-Konflikt, meint Müller. Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, in dem Nazideutschland die damalige UdSSR und Belarus angriffen, werden jedes Jahr aufgefrischt – am 9. Mai, dem „Tag des Sieges“.

„Es gibt dort im Memorial Komplex ein festliches Andenken an die Befreiung durch die Sowjetunion“, berichtet die Freundeskreis-Vorsitzende, „die Polozker vergessen diesen Krieg nicht.“ In Polozk leben überwiegend Belarussen, aber auch Ukrainer und Russen. Über Politik, so sagt Elvira Müller, reden sie mit uns nicht. Bei einer Sache seien sich die Frauen alle einig: „Niemand will seine Söhne oder Männer in den Krieg schicken.“ Krieg – was das bedeutet, wissen die Polozker noch allzu gut.

Dann erzählt Müller von der Arbeit des Freundeskreises. Die sei bereits seit zwei Jahren deutlich erschwert. Erst die Pandemie, jetzt der Krieg. Zwei Jahre konnte sie nicht nach Polozk reisen und das Geld, das viele Häfler jedes Jahr sammeln und spenden, an die Familien übergeben. 48 bedürftige Familien unterstützt der Freundeskreis mit regelmäßigen Geldspenden, die persönlich überbracht werden müssen, weil Auslandsüberweisungen in Belarus langwierig und höchstbürokratisch laufen.

Kurz vor Beginn der vierten Welle im Land haben sie es zu zweit dann doch noch ins Land geschafft, erzählt Müller. Das war im September – und die Reise dauerte mit Stopps in Riga und Minsk über 24 Stunden. „Viele Menschen in Polozk hatten schon zwei, dreimal Corona“, sagt Müller, „die Skepsis gegen den Sputnik-Impfstoff ist groß.“

Wie leben die Menschen in Polozk überhaupt? Wo arbeiten sie? Sind viele bedürftig? Müller verweist auf Novopolozk, der rund 100.000 Einwohner großen Industriestadt neben dem alten Polozk. In Novopolozk gibt es die Arbeit, in Polozk die Kultur. „Wir vom Freundeskreis unterstützen vor allem einkommensschwache Menschen oder aber eben Projekte, in denen es um benachteiligte Menschen geht“, sagt Müller.

Dieses Trainingsgerät für Rollstuhlfahrer in Polozk wurde vom Freundeskreis unterstützt.
Dieses Trainingsgerät für Rollstuhlfahrer in Polozk wurde vom Freundeskreis unterstützt. | Bild: Freundeskreis Poloz

Da wären zum Beispiel die Rollstuhlfahrervereinigung und der Verein „Union belarussischer Frauen“, mit denen der Freundeskreis in engem Kontakt steht. Die machen Projekte für einsame, ältere Menschen, statten aber auch Kinder mit Winterkleidung aus. Oder der Verein „Tschernobyl Echo“, in dem sich Betroffene der Atomkatastrophe zusammenfinden, die nach Polozk evakuiert wurden. „Sehr am Herzen liegt uns auch der Verein Strumok“, betont Müller, „ein Verein von Eltern mit behinderten Kindern.“ Oder das „Otkrovenie“, ein Projekt, das sich unter anderem um das Thema Mobbing bei Jugendlichen kümmert und Trainings anbietet.

Im Polozker Kindergarten wird derzeit noch ein Synoptophor (Stereoskop) aus den 1980er-Jahren zur Untersuchung der Bewegungs- und ...
Im Polozker Kindergarten wird derzeit noch ein Synoptophor (Stereoskop) aus den 1980er-Jahren zur Untersuchung der Bewegungs- und Funktionskoordination der Augen und zur Schielbehandlung verwendet. Das neue Gerät, finanziert und bestellt vom Freundeskreis Polozk, liegt im Moment in Charkow, Ukraine – und kann aufgrund des Ukraine-Konflikts nicht nach Belarus ausgeliefert werden. | Bild: Stadt Friedrichshafen

Bei ihrem letzten Besuch im September waren die Freundeskreismitglieder in einem Kindergarten zu Besuch, der integrativ mit sehschwachen Kindern arbeitet. „Sie haben uns ein Therapiegerät aus den 1980er-Jahren gezeigt, das man kaum mehr benutzen kann“, erklärt Müller, „dabei ist für diese Kinder wichtig, dass sie im Kindergarten direkt Therapie bekommen.“ Der Freundeskreis zögerte nicht lange und sagte der Anschaffung eines neuen Geräts zu. Das wiederum wird aber in Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, gefertigt und kann seither nicht ausgeliefert werden. „Die Grenzen sind dicht“, sagt Müller. Das Thema Krieg – es ist allgegenwärtig.