„Die stille Betroffenheit in den Gemeinden ist ohrenbetäubend“, sagt Dekan Bernd Herbinger, leitender Pfarrer der Seelsorgeeinheit Friedrichshafen Mitte. Nur wenige Mitglieder seiner Kirchengemeinde hätten nach den jüngst bekannt gewordenen Vorgängen rund um das Missbrauchsgutachten im Erzbistum Freising und München das persönliche Gespräch mit ihm gesucht. „Wenn jemand eine persönlich verletzende Erfahrung mit der Kirche gemacht hat, habe ich größten Respekt, wenn die Person trotzdem nicht austritt“, erklärt Herbinger.
„Die Geschehnisse waren und sind monströs.“Bernd Herbinger, Dekan des Dekanats Friedrichshafen
Zu bedenken sei bei einem Kirchenaustritt, dass das Geld, mit dem man die in der Hierarchie oben Stehenden nicht mehr unterstützen wolle, zu 99 Prozent der Kirchengemeinde vor Ort fehle. Dabei denke er an denkmalgeschützte Gotteshäuser, die Gehälter der pastoralen Dienste oder an die Arbeit in Kindergärten, die direkt von den Mitgliedsbeiträgen abhängig seien. Als Alternative zum Austritt schlägt Bernd Herbinger vor, über den örtlichen Pfarrer eine Protestnote an die Diözesanleitung zu schreiben.
„Die Geschehnisse waren und sind monströs“, sagt Dekan Herbinger zu den Missbrauchsfällen in der Kirche. Die Aufarbeitung sei auf das katholische Deutschland bezogen inadäquat in Sachen Qualität und Tempo. „Der Schaden ist bekannt. Wir haben hier mit massivem Führungsversagen zu tun.“ Dies könne man nicht entschuldigen, weder vor den Kindern von damals noch vor den getauften Mitgliedern.

Laut Herbinger sollte das kirchliche Arbeitsrecht schleunigst angepasst werden. „Es reicht doch für den Großteil der Angestellten, wenn sie Mitglied der Kirche und ihrem jeweiligen Dienstgeber in kritischer Loyalität verbunden sind.“ Das Diakonat für Frauen hält Herbinger nicht nur für wünschenswert, sondern in keiner Weise für anstößig. „Viele wünschen sich mehr, das ist mir bewusst, aber ich plädiere nicht für Maximalforderungen, sondern für eine rasche Umsetzung des unstrittig Möglichen“, sagt der Dekan.
Die eigentliche Reform müsse aber eine geistliche sein. Bestehe der Markenkern doch nicht aus Pfarrfesten und dem Sammeln von Spenden, aus Gebäudesanierungen oder Pflege des Brauchtums. „Die anspruchsvolle Botschaft eines lebendigen dreifaltigen Gottes fordert viel ab, aber sie orientiert gerade in einer Welt im Umbruch maximal“, sagt Herbinger.
Zum eigenen kirchlichen Arbeitsrecht sagt der Dekan, dass Kirchen ebenso wie Gewerkschaften und Parteien sogenannte Tendenzbetriebe seien. Man dürfe eine christliche Ethik und Haltung erwarten, wo katholisch draufstehe. „Aber ob sich katholisch und wieder verheiratet oder gleichgeschlechtlich interessiert zu sein immer ausschließen, da müssen wir gerade richtig dazu lernen“, stellt Herbinger fest.
„Weh tut mir vor allem, dass wir vor Ort für Dinge geschlagen werden, für die wir nichts können.“Peter Nicola, Dekan des Dekanats Linzgau
Auch im benachbarten Dekanat Linzgau suchen die Menschen vor dem Kirchenaustritt selten das Gespräch. „Bei uns flattert die Erklärung des Standesamts auf den Tisch“, berichtet Dekan Peter Nicola. Auf den nach den Ereignissen um die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens in der Erzdiözese München und Freising neu formulierten Brief seiner Kirchengemeinde als Reaktion auf einen Kirchenaustritt habe es aber einige Reaktionen gegeben und er habe gute und faire Gespräche führen können. „Weh tut mir vor allem, dass wir vor Ort für Dinge geschlagen werden, für die wir nichts können“, sagt Nicola.
Einige Themen stehen nicht in der Macht der Diözese
Seine Botschaft ist, dass man ein System nur verändern könne, wenn man im System bleibe. So stünden in der Diözese Freiburg mit dem „Projekt 2030“ große Strukturreformen an. „Hier sind Engagement und Kritik wichtig“, fordert der Dekan zum Mitmachen und Sich-Einbringen auf. Allerdings gebe es auch Themen, die nicht in der Macht der Diözese stehen: „Dazu gehören die Weihe von Frauen und die hierarchischen Strukturen der katholischen Kirche“, nennt Nicola Beispiele. Aber man müsse im Kleinen, das heißt dem Gemeindeleben vor Ort, anfangen. „Wir brauchen Menschen, die ihre Realität mit ins Boot bringen.“
Lösungen auch in der Kirchengeschichte zu finden
Während des Lockdowns habe er sich viel mit Kirchengeschichte beschäftigt. „Vor 1200 Jahren gab es mit der Heiligen Walburga eine Äbtissin, die als Chefin sowohl das Männer- als auch das Frauenkloster im fränkischen Heidenheim geleitet hat“, nennt der Dekan ein Beispiel. Dies zeige ihm, dass in der eigenen Tradition durchaus Problemlösungen zu finden seien.
„Wir müssen unseren Blick weiten und dürfen uns nicht auf die Tradition der letzten 150 Jahre allein beschränken.“ Reformen müssen Nicolas Meinung nach an Punkten ansetzen, die realisierbar sind. „Und natürlich: Man muss man einen langen Atem haben, auch wenn das manchmal sehr schwerfällt.“
Mit Blick auf die Sexualmoral möchte Nicola das sechste Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ an die Stelle rücken, an die es gehört: „Aktuell hat man den Eindruck, dass es an erster Stelle steht.“ Dabei sei es wichtig, dieses Gebot umfassend zu verstehen im Hinblick auf das ganze Thema menschlicher Beziehungen mit Liebe, Verlässlichkeit und gegenseitiger Unterstützung. „Dabei ist mir Toleranz allein zu wenig. Hier muss es Fortschritte hinsichtlich Seelsorge und Kirchenrecht geben“, betont Nicola.