Aus! Nichts geht mehr; dabei war ich doch fit wie noch nie, hatte auch am dritten Tag noch keine einzige Blase und war relativ entspannt an den Start gegangen. Aber die Verspannung vom Vortag, die meinen Rücken durchzog, dass ich immer noch schiefer nach links geneigt war, machte sich nach fünf Kilometern wieder bemerkbar.

Eigentlich hatte die Massage vom Vorabend gut angeschlagen. Doch jetzt war es vorbei. Auch zwischenzeitliche Übungen halfen nur kurze Zeit. Ich komme als Letzter meiner Gruppe beim Kontrollpunkt an und schicke die anderen ohne mich weiter: Aus! Nichts geht mehr.
Am Dienstagmorgen um 4 Uhr waren wir gestartet – so wie viele tausend andere auch. Tausende, die so verrückt waren wie wir und an vier Tagen 200 Kilometer wandern wollten: jeden Tag 50 Kilometer. Etwas später würden die 40er starten und noch später die 30er: Die hatten es gut, die konnten deutlich länger schlafen. Der Ort: Nijmegen, eine niederländische Großstadt nahe der deutschen Stadt Kleve, in der die „4daagse“ stattfinden.

Die Provinz Geldern, in der Nijmegen liegt, ist nicht gerade abwechslungsreich. Kilometerlang geht es auf asphaltierten Wegen durch Wiesen oder über lange Dämme, die entlang des Waals, einer der Arme des Rheins, verlaufen und schier kein Ende nehmen wollen. Und mitten durch diese Landschaft schlängelt sich eine Menschenmasse, die einer Völkerwanderung gleicht, nur dass diese Wanderung im Kreis verläuft und genau dort endet, wo sie begonnen hat.
Die Holländer lieben ihre „4daagse“. Schon morgens um vier Uhr säumen tausende Schaulustige die Straßenränder vom Start bis zur Stadtgrenze, wünschen den Teilnehmern viel Erfolg, bilden Spaliere und klatschen ab. Diese Begeisterung zieht sich durch alle vier Tage: In jedem Ort, durch den man kommt, ist Volksfest. Kinder stehen am Straßenrand und bieten Süßigkeiten, Tomaten oder Gurken an.

Hausbesitzer haben ihre Gartenschläuche bis zur Straße gelegt und geben den Wanderern so Wasser als Getränk oder zur Kühlung. Überall schallt Musik – live oder aus der Stereoanlage – und alle jubeln und feuern die müden Helden an.
Am heftigsten aber sind die Einzüge nach Nijmegen am Nachmittag: Die ganze Stadt scheint nur für die Wanderer da zu sein. Am letzten Tag werden Tribünen aufgebaut. Die Haupteinfallstraße ist gesperrt und am Rand stehen, sitzen und liegen die Zuschauer. Selbst Kranke werden mit ihren Betten an die Straße geschoben, damit sie mitjubeln können.

„Das ist das Beste, was ich je erlebt habe“, begeistert sich Sam Merlin, ein Brite, der bereits an den Marathons in London und New York teilgenommen hatte. „Die Freundlichkeit, Begeisterung, aber auch Hilfsbereitschaft der Holländer ist unglaublich. Ich bin bestimmt nächstes Jahr wieder dabei.“
Er und 19 weitere hatten es geschafft, waren an allen vier Tagen 50 Kilometer gewandert und nahmen erschöpft und teilweise mit Schmerzen, aber alle stolz die Medaillen in Empfang. Ich freute mich mit ihnen; schließlich hatte ich schon eine Medaille aus dem Vorjahr.

Die nächste kann ja im Jahr 2020 dazukommen. Denn dann plant der Leiter der Schule Schloss Salem, Bernd Westermeyer, einen ganz großen Coup: „Zum 100-jährigen Bestehen unserer Schule würde ich gerne mit 100 Salemern an den 4daagse teilnehmen.“ Und da ich als pensionierter Lehrer an der Schule tätig war, kann auch ich dabei sein. Wie er diese 100 Wanderer rekrutieren will? „Zur Not frage ich auch Kollegen, unsere Altschüler und die Eltern.“
Veranstaltung
Die „4daagse“ sind vermutlich die größte Wanderveranstaltung der Welt, finden jeweils im Sommer statt und erlebten 2019 ihre 103. Auflage. Teilnehmen können Einzelpersonen und Gruppen von mindestens elf Personen. An vier aufeinanderfolgenden Tagen läuft man jeweils Strecken, die immer am selben Punkt in Nijmegen starten und enden. Männer zwischen 18 und 50 Jahren müssen täglich 50 Kilometer wandern, die Strecken für ältere und jüngere und für Frauen variieren zwischen 30 und 40 Kilometer. Man darf freiwillig aber auch die längeren Srecken angehen. Zur Unterscheidung haben die Teilnehmer Bändchen mit unterschiedlichen Farbcodes. Der Andrang ist riesig, die Teilnehmerzahl begrenzt: Bei 47 000 ist Schluss. Da sich regelmäßig deutlich mehr Leute anmelden, gibt es nach Meldeschluss ein Losverfahren. Doch nicht jeder muss in den Lostopf: Wer bereits einmal oder mehrfach erfolgreich teilgenommen hat, ist gesetzt. Ebenso sind die Teilnehmer von Gruppen und Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren gesetzt. Schwierig wird es also vor allem für Einzelpersonen, die sich neu anmelden. Den Teilnehmern aus aller Welt winkt ein unvergessliches Erlebnis und – wenn sie es geschafft haben – eine Medaille.