"Mir zerreißt's schier das Herz – und vielen Gästen auch", sagt Löwenwirt Winfried Keller (63), der seit mehr als 30 Jahren die einzige Gaststätte im Überlinger Teilort Deisendorf betreibt. Doch damit ist im Herbst Schluss. Der stark sehbehinderte Keller findet keinen Nachfolger für seinen Betrieb und verkauft das geschichtsträchtige Anwesen an eine Schweizer Investorengruppe. Einen Vorvertrag hat er schon im November abgeschlossen, wie er selbst sagt. Doch was auf dem Anwesen entstehen wird, steht noch in den Sternen.
Ende Oktober soll Schluss sein
Erst vor wenigen Wochen konnte Keller noch eine Urkunde an die holzvertäfelte Wand hängen. "In Anerkennung und Würdigung seiner Verdienste als großzügiger Löwen-Wirt, Freund und Gönner ernennen wir Herrn Winfried Keller zum Ehrenmitglied", hat der Vorstand des Musikvereins Harmonie Lippertsreute im März hier draufgeschrieben. Nahe des Eingangs hat sich eine Stammtischgruppe "Schwarzwaldstüble" verewigt. Beide werden hier nicht mehr sehr lange hängen. "Es ist wohl so: Ende Oktober werde ich schließen", sagt Winfried Keller. Worte, die ihm hörbar schwerfallen.

Gäste erkennt er an ihren Stimmen
Nebenbei versucht er mit zwei Lupen, die aktuelle Post zu entziffern. Denn schon von Kindesbeinen an hatte Keller nur ein funktionstüchtiges Auge, beim zweiten ist die Sehkraft aufgrund einer fortschreitenden Degeneration der Netzhaut auf fünf Prozent geschrumpft. "Wer ist es?", fragt der Gastwirt in Richtung Tür. Denn seine Gäste erkennt Keller eigentlich nur an der Stimme. Dennoch bewegt er sich in der gewohnten Umgebung zielsicher und serviert das bestellte Bier.

Großvater Joseph kaufte Anwesen 1911
Der geborene Gastwirt war auch Winfried Keller zunächst nicht gewesen. Großvater Joseph hatte das historische Anwesen am 18. Oktober 1911 für 40.000 Goldmark erworben. Vater Leopold Keller, der in den 1930er Jahren ein Kaufhaus in Berlin geleitet hatte, übernahm den "Löwen" dann 1954. Der war allerdings gleich 1948 nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft zum Bürgermeister von Deisendorf gewählt worden, kümmerte sich viel um den Ort und überließ die Gastwirtschaft weitgehend seiner Frau. "Mein Vater war ein Visionär", sagt Keller: "Er sorgte sich um das Rathaus, die Schule und die Feuerwehr – alles ehrenamtlich."
Ärger über Unmut im Dorf
Winfried Keller absolvierte eine Banklehre und war rund zehn Jahre bei der Volksbank tätig. Erst als Schwester Maria, die fast 20 Jahre mit Mutter Hedwig in der Gastwirtschaft gearbeitet hatte, 1985 in ein Kloster nach Tirol ging, sah sich der jüngere Bruder gastronomisch gefordert und sattelte um. Doch bald war die Tätigkeit für ihn tatsächlich zu einer Herzensaufgabe geworden.
Umso mehr wurmt es den Gastwirt, wenn mancher hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand über den Verkauf meckert. "Alle mulet", klagt Keller und fühlt sich von vielen Deisendorfern zu Unrecht kritisiert. "Plötzlich heißt es überall: Was machen wir dann an Fastnacht?" Doch nutze inzwischen fast jeder Verein eigene Räume oder das Dorfgemeinschaftshaus.

Gasthaus mit über 300-jähriger Geschichte
Mit dem absehbaren Abriss des "Löwens" geht nicht nur eine familiäre Tradition von 107 Jahren zu Ende, sondern auch eine dörfliche Geschichte von mehr als 300 Jahren, die schon 1706 nachgewiesen ist. Ein Gast hatte Keller eine in jenem Jahr datierte Urkunde gezeigt, auf der der Name Waldvogel als "Löwenwirt" vermerkt sei. "Das Haus hat schon eine Geschichte", sagt Winfried Keller mit belegter Stimme. "Früher war das Gasthaus zugleich eine Posthalterei", sagt Keller. "Nebenan waren Ställe, in denen die Pferde untergestellt oder umgespannt wurden."
Ansprüche von Hotelgästen stetig gestiegen
Heute müssten Eigentümer Keller oder ein möglicher Pächter einiges investieren, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Der Landgasthof wirbt zwar schon seit 2014 mit kostenlosem WLAN auf dem Zimmer, doch die Ansprüche der Gäste seien einfach gestiegen, weiß der Löwenwirt. Diese Situation senkt die Attraktivität für Interessenten, auch wenn die Lage des "Hauses mit persönlicher Note" im "attraktiven Dreieck Birnau-Salem-Überlingen", wie es auf der Homepage heißt, für Feriengäste tatsächlich interessant ist.
Wie die Stadtverwaltung auf die Neubaupläne reagiert
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Das sagt der Baubürgermeister: Ende Oktober will Winfried Keller den „Löwen“ endgültig schließen. Was die Käufer des Anwesens vorhaben, ist noch völlig offen. Einen Vorvertrag über den Verkauf des Anwesens hatte Winfried Keller im November 2017 mit der Schweizer BG Business Group mit Sitz in Steinhausen am Zuger See abgeschlossen. Ein erster Entwurf für eine Bebauung war als Anfrage bei der Stadtverwaltung eingegangen. „Das war völlig unvorstellbar“, erklärte Baubürgermeister Matthias Längin auf Nachfrage. Einen Bebauungsplan gibt es für die Ortsmitte nicht, die baurechtliche Genehmigung muss sich an Art und Maß der umgebenden Bebauung orientieren. Allerdings hat der Teilort schon 2009 eine eigene Gestaltungssatzung beschlossen, die als Orientierung für die dörfliche Entwicklung gilt. Nach der Ablehnung der ersten Anfrage sei bislang kein neuer Entwurf eingereicht worden, erklärt Längin.
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Das sagt der Ortsvorsteher: „Wir können die persönliche Situation von Winfried Keller natürlich verstehen“, sagt Ortsvorsteher Martin Strehl: „Dennoch ist es aus Sicht des Dorfes sehr schade, wenn das letzte Wirtshaus verschwindet. Das ist fatal.“ Als Begegnungsstätte und Treffpunkt sei es für die Vereine wichtig. „Schade“ findet es der Ortsvorsteher, dass Keller mit niemand über seine Verkaufsabsicht gesprochen habe. Wichtig sei es für Deisendorf, dass der dörfliche Charakter des Ortszentrums gemäß der Gestaltungssatzung erhalten bleibt, die der Ortschaftsrat im Jahr 2009 beschlossen hatte.Hinzu kommt, dass die Stadt ihr Vorkaufsrecht über den Gewässerrandstreifen am Riedbach geltend machen will, um das Ufer öffentlich zugänglich zu halten. Das ärgert Eigentümer Winfried Keller. „Doch das kann und soll künftig überall in der Stadt so umgesetzt werden“, erklärt Strehl: „Das reduziert natürlich die Möglichkeiten zur Bebauung. Ich halte es jedoch aus Sicht des Dorfes für richtig.“ In der kommenden Woche sei ein Ortstermin mit dem Architekten vorgesehen, um die Möglichkeiten einer dorfgerechten Bebauung abzustimmen. „Vertreter der Stadtverwaltung werden hier auch mit dabei sein“, erklärt Martin Strehl. (hpw)