Es gibt sie noch – die Orte, an denen die Uhr irgendwann aufhört zu ticken und wo die Zeit stillsteht. Auch an diesen Stätten wird gearbeitet, sie leben, Papier raschelt und beginnt zu erzählen. Das Stadtarchiv von Überlingen ist ein solcher Ort. Haufen aus Pergament oder Papier wohnen hier seit Jahrhunderten. In schweren Schränken, die mit krummen Buchstaben und Signaturen versehen sind, haben sie es sich bequem gemacht. Das Archiv ist mit Böden aus schweren Holzbohlen oder Steinen belegt. Ein Kachelofen wärmt den Raum und die Urkunden, die von kalten und heißen Zeiten berichten. Inmitten dieser stummen Zeugen sitzt Walter Liehner an einem sauber aufgeräumten Schreibtisch. Nur der doppelte Bildschirm erinnert daran, dass dieser Mann im 21. Jahrhundert zu Hause ist. Als Archivar dirigiert er dieses Reich mit milder Hand.

Mit zarten 26 Jahren wurde ihm dieses Wächteramt anvertraut. „Das ist aber schon auf Lebenszeit“, bedeuteten ihm die Herren, die ihn im vorigen Jahrhundert einstellten. Das hat ihn damals erschreckt. Auf Lebenszeit! Inzwischen ist Liehner 63 Jahre alt. Ihm ist klar, dass diese Stelle mehr bedeutet als ein Job auf Zeit, den man nach einigen Jahren abwirft, um die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu nehmen, deren Sprossen ohnehin brüchig sind. Liehner sinniert längere Zeit, wenn man ihn damit konfrontiert, mit der Karriere. Dann sagt er: “Das habe ich mich nie gefragt.“

Der Diplomarchivar verwaltet 4500 Pergamentstücke

Der junge Diplomarchivar kniete sich damals in die Ordnung hinein, die seine Vorgänger hinterließen. Und er ordnete Bestände neu. Immer geht es um das Suchen und das Finden im Archiv. Liehner findet inzwischen alles, was er sucht oder was andere – vom schwarz verkleideten Kunsthistoriker bis zur Vereinschronistin – suchen lassen. Seit 37 Jahren wandelt er zwischen Buchregalen und Urkundenschreinen. Nun zahlt es sich aus. „Jetzt ist Ernte. Das macht einen Archivar aus.“ In den ehrwürdigen Räumen mit allein knapp 4500 Pergamentstücken wirkt er als Alleinunterhalter, der sich über seine Dokumente beugt und durch die Jahrhunderte blättert. Deshalb hat er diesen Beruf ergriffen, der ihn schon als Jugendlicher anfasste. Geschichte anfassen.

In einem Winkel seines Arbeitszimmers hängt ein altes Kruzifix. Ein dürrer Zweig klemmt hinter dem Querbalken des Kreuzes, ein kleiner Palmen. „Überlingen war immer katholisch“, erläutert der Katholik Liehner. Da gab es kein Wackeln, auch nicht in der Reformation. Das Kreuz mit dem Korpus des toten Jesus gehört in diese neugotischen Stube, selbstverständlich.

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Walter Liehner baut Brücken aus der Vergangenheit

„Dieser Raum ist etwas Besonderes“, sagt er in seinem behaglichen Meßkircher Schwäbisch. Das Winterlicht fällt gedämpft durch die runden Butzenscheiben in den Raum. Schaut man hinaus, dann verschwimmt der Blick auf den Münsterplatz. Vom Schreibtisch aus blickt Liehner direkt auf den Chor des Überlinger Münsters. Dessen Hosianna-Glocke schwingt, ist in Hörweite. Das ist ziemlich viel Mittelalter auf einmal – für Liehner nie zu viel. Männer seines Schlages stehen mit einem Fuß in der Vergangenheit. Für die Kommune am Bodensee und für die interessierte Bürgerschaft baut er die Brücke in die Vergangenheit.

Viele historische Dokumente liegen im Stadtarchiv. Walter Liehner kennt seine Schätze genau.
Viele historische Dokumente liegen im Stadtarchiv. Walter Liehner kennt seine Schätze genau. | Bild: Rasmus Peters

Wenn er die schweren Tore und holzgerahmten Türen einmal im Jahr am Tag des Offenen Denkmals aufstößt, dann strömen die Menschen herein. Die Räume mit ihrer altertümlichen Verglasung und ihren schweren Archivkisten werden bestaunt, vor allem: Männer, Frauen und Kinder stehen vor Historie zum Anfassen. Ein vergilbtes Pergament hat eine andere Aura als dasselbe Schriftstück, das digital studiert wird. Forscher oder Laie kommen hier in Kontakt mit dem stofflichen Original.

Erinnerung an große Zeiten

Dabei wohnen die Überlinger in einer Kleinstadt im Bodenseekreis. Den Status einer Kreisstadt mussten sie vor gut 50 Jahren abgeben, als das größere Friedrichshafen zur Kreisstadt wurde und die Behörden gleich an sich nahm. Was bleibt Überlingen mit seinen knapp 25.000 Einwohnern? Die Grandezza einer reichen Geschichte – und der Bodensee. Die Größe und vor allem: das Gefühl von Größe speist sich nicht aus der Gegenwart, sondern aus einem Wort mit zwei Silben: Reichsstadt. Bis zur Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches (später mit dem Zusatz Deutscher Nation) führte die Stadt am See diesen stolzen Titel, der mit großen Freiheiten verknüpft war. Die Reichsstadt war nur dem Kaiser untertan. Weder die mächtigen geistlichen Nachbarn wie der Abt von Salem oder der Bischof von Konstanz noch der Adel am Bodensee konnten die Überlinger kommandieren. Sie wählten ihren Bürgermeister, der Rat zog Steuern ein, die in der Stadt blieben.

Walter Liehner, Stadtarchivar von Überlingen.
Walter Liehner, Stadtarchivar von Überlingen. | Bild: Cian Hartung

Diese Herrlichkeit endete jäh, als Napoleon die Landkarten neu zeichnete. Überlingen verlor wie alle Reichsstädte seine Selbstständigkeit. Vom Stadtstaat wurde es zur badischen Landstadt, mit einem Souverän im fernen Karlsruhe, der zudem ein fremd klingendes Alemannisch sprach, was den Seeschwaben kaum unverständlich war. „Das Selbstverständnis ist geblieben“, erläutert Walter Liehner, “die ehemaligen Reichsstädte behielten ihren Stolz bei.“

Er ist Dienstleister, Autor und Historiker

Walter Liehner passt bestens in dieses Selbstbild einer kleinen, aber feinen Stadt. Er stammt aus dem Hohenzollerischen und ging in Meßkirch zur Schule. Im Laufe der Jahre ist er selbst zum Überlinger geworden. Er trägt ein gut geschnittenes weißes Hemd und eine Tweed-Weste mit fünf Knöpfen. „Die kommt aus Irland“, erläutert er, „die Bauern dort und der Landadel tragen diese Westen.“ Das ist ihm bei einem Besuch der Insel aufgefallen. Also trägt er auch eine Weste – sie lassen ihn wirken wie einen halben Kellner und einen halben Lord.

Früher saß hier der Stadtschreiber, heute das Stadtarchiv Überlingen.
Früher saß hier der Stadtschreiber, heute das Stadtarchiv Überlingen. | Bild: Fricker, Ulrich

In seinem Arbeitstag ist er tatsächlich beides. Hier Dienstleister, dort Herr seiner Gedanken und Autor von Aufsätzen. So beeindruckend die Kulisse ist, in der das Archiv seit 1913 untergebracht ist: Ihr Chef befasst sich in erster Linie mit den Dingen, die eifrige Amtsmenschen hinterlassen. Bei jedem Schriftstück, das ihm die Verwaltung schickt, fragt er sich: Ist das erhaltenswert oder kann es weg? Durch seine Auswahl entscheidet er auch über das Material, das Generationen nach ihm betrachten und auswerten. Der Archivar wirkt weit über seine Lebenszeit hinaus.

Die Arbeit geht nicht aus. Das Archiv konserviert das Alte und nimmt laufend neue Unterlagen auf. In einem Arbeitsraum liegen Plakate vom jüngsten Wahlkampf am Boden. Im November wurde Amtsinhaber Jan Zeitler als OB bestätigt. „Auch diese Plakate werden wir archivieren“, versichert Liehner. Er weiß nur bislang nicht, wann er dazukommt.