Zuerst vibriert ihr Smartphone pausenlos, dann heulen die Alarmsirenen. Regine Klusmann liegt noch im Bett in ihrer Mietwohnung, als die Warn-App zahlreiche Raketenalarme zeigt. „Es hörte gar nicht mehr auf, es ging im Sekundentakt“, erzählt die Dekanin des Evangelischen Kirchenbezirks Überligen-Stockach. „Ich dachte mir: ‚Irgendwas stimmt hier gerade gar nicht.‘“ Sie geht in den Schutzraum in ihrer Wohnung, verschließt die Türen und wartet, bis das Sirenengeheul verschwindet.

Es ist der Morgen des 7. Oktober, Regine Klusmann befindet sich in in Jerusalem, der Hauptstadt Israels. Ihr Mann, Pfarrer Andreas Bücklein, erlebt diese Minuten in einem Gottesdienst einer deutsch-evangelischen Schule. Während der Messe hätten die Anwesenden plötzlich auf die Warn-App auf ihren Smartphones geschaut, berichtet er im Videogespräch mit dem SÜDKURIER. „Da hat man gemerkt, da geht irgendwas los.“

Der Screenshot aus der Warn-App der israelischen Regierung am 7. Oktober um 9.23 Uhr: Die roten Ortsmarken zeigen, wo es in der ...
Der Screenshot aus der Warn-App der israelischen Regierung am 7. Oktober um 9.23 Uhr: Die roten Ortsmarken zeigen, wo es in der abgelaufenen Stunde im Land überall Alarm gab. „Im Verlauf des Tages wurde von einer Anzeige der Gesamtkarte umgestellt auf detailliertere Regionalkarten, weil ansonsten wohl die Gesamtkarte durchgehend komplett rot gewesen wäre“, erzählt Andreas Bücklein. | Bild: Regine Klusmann

Den Anwesenden sei wohl klar gewesen, dass sie lieber nach Hause fahren sollten, um sich in Sicherheit zu bringen. Bücklein sucht in einem Schutzraum eines nahegelegenen Hotels Zuflucht, während die Sirenen bereits heulen. Nach zwei Alarmen kommt er unbeschadet zu seiner Frau in die Wohnung zurück. Erst im Laufe des Tages erfahren sie vom Ausmaß des Angriffs. „Das war furchtbar“, sagt Klusmann. „Uns war schon klar: Hier passiert gerade etwas, das ist völlig jenseits des normalen Ausnahmezustands.“

Drei Monate Aufenthalt in Jerusalem

Dass sich ihr Israel-Aufenthalt so gestalten würde, hatte das Ehepaar bei der Abreise nicht erwartet. Am 1. September waren sie von Überlingen aus für ein dreimonatiges Kontaktstudium nach Jerusalem aufgebrochen. Hintergrund der Reise war, dass Pfarrer im Laufe ihrer Dienstzeit eine Art der Fortbildung machen können, Klusmann und Bücklein hatten das aber nie in Anspruch genommen.

Die Religion und das Leben vor Ort hautnah kennenlernen: Dekanin Regine Klusmann auf einem Markt in Jerusalem mit der traditionellen ...
Die Religion und das Leben vor Ort hautnah kennenlernen: Dekanin Regine Klusmann auf einem Markt in Jerusalem mit der traditionellen Kopfbedeckung, einem sogenannten Tichel. | Bild: Andreas Bücklein

„Das wollten wir mal machen, jetzt, wo alle Kinder aus dem Haus sind.“ In Seminaren an der Jerusalemer Universität studierten sie rund einen Monat mit anderen deutschen Studenten und Pfarrern theologische Fragen oder unternahmen Exkursionen an biblische Orte. Sie wollten auch wissen: Wie funktioniert das Miteinander der Religionen in einem Land wie Israel?

Ein Tag zuvor noch auf palästinensischem Gebiet

Vor ihrer Abreise wussten sie, dass in Israel aufgrund der Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern immer eine gewisse Spannung herrsche. Vor allem in ihrer Reisezeit, in der einige Feiertage lagen. „In den Grenzgebieten von Ost- und West-Jerusalem kommt es dann immer wieder zu kleineren Provokationen“, berichtet Klusmann.

Das könnte Sie auch interessieren

Noch am Tag vor dem Angriff der Hamas waren sie bei einem Bekannten in Bethlehem im palästinensischen Westjordanland zu Besuch. Kurz vor der nächtlichen Schließung des Checkpoints seien sie wieder auf die israelische Seite zurück, erzählen sie. Im Rückblick eine glückliche Entscheidung: „Wenn wir in der Nacht dort geblieben wären, wäre alles anders gelaufen“, sagt Bücklein. Der Grenzübergang war nach den Angriffen geschlossen.

Leere Straßen wie im Corona-Lockdown

In den Tagen nach den ersten Angriffen bleiben sie in ihrer Wohnung und erleben noch mehrere Raketenalarme. „Die Empfehlung war, sich für 72 Stunden mit Wasser und Nahrungsmitteln einzudecken und möglichst nicht aus dem Haus zu gehen“, erzählt Bücklein. Leere Straßen, geschlossene Grenzübergänge – es fühlt sich ein wenig an wie ein Corona-Lockdown, sagen sie. Nachts hören sie zudem Schießereien.

Ausnahmezustand in Jerusalem: Israelische Soldaten stehen am 13. Oktober nahe der Al-Aqsa-Moschee. Hier gab es in der Vergangenheit ...
Ausnahmezustand in Jerusalem: Israelische Soldaten stehen am 13. Oktober nahe der Al-Aqsa-Moschee. Hier gab es in der Vergangenheit öfters Zusammenstöße von Juden und Muslimen. | Bild: AHMAD GHARABLI/AFP

In diesen Tagen sprechen sie mit mehreren Einheimischen. „Bei ihnen herrschte die Angst, dass sich hier etwas wirklich Großes sich entwickelt.“ Jede jüdische Familie kenne jemanden, der betroffen sei: entweder umgebracht, verschleppt oder als Soldat im Einsatz , so Klusmann.

Oben im Flugzeug, unten tobt der Krieg

Einige Tage nach dem Angriff entscheiden die Überlinger sich, Israel Richtung Jordanien zu verlassen. Am 11. Oktober fahren sie mit einem Reisebus südlich entlang des Jordan-Flusses an einen Grenzübergang an den südlichsten Zipfel des Lands.

Von Jerusalem südlich nach Eilat und dann über die Grenze: Auf diesem Wege verließen Regine Klusmann und Andreas Bücklein Israel.
Von Jerusalem südlich nach Eilat und dann über die Grenze: Auf diesem Wege verließen Regine Klusmann und Andreas Bücklein Israel. | Bild: SK

Hintergrund dieser Route ist es, dass die Grenzübergänge bei Jerusalem geschlossen sind und ihnen die Ausreise über Tel Aviv zu gefährlich erscheint. Ihr Ausreiseweg soll sicherer sein, weil Raketen der Hamas offenbar nicht bis dorthin reichen. Am Übergang in der Stadt Eilat gehen sie zu Fuß über die Grenze, verbringen ein paar Tage in Jordanien und fliegen dann über die Hauptstadt Amman in die Türkei.

Regine Klusmann mit Koffern am Grenzübergang zwischen der israelischen Stadt Eilat und der jordanischen Stadt Aqaba.
Regine Klusmann mit Koffern am Grenzübergang zwischen der israelischen Stadt Eilat und der jordanischen Stadt Aqaba. | Bild: Andreas Bücklein

Die Flugroute gestaltet sich aufgrund des Kriegsgeschehens anders. Eigentlich führt sie über Israel, nun fliegen sie aber einen großen Bogen um das Land herum: über Ägypten und das Mittelmeer. Den Nachtflug nach Ankara hat Regine Klusmann als gespenstisch in Erinnerung. Aus den Flugzeugfenstern können sie die ganze Nacht auf den Gazastreifen und den Norden schauen, sagt sie „Da unten ploppte immer wieder Feuer in der Dunkelheit auf.“

So geht es ihnen nach der Ausreise

Seit ein paar Tagen sind sie in der Türkei und halten sich in der Region Kappadokien auf. Dort sind sie auf den Spuren von Apostel Paulus und schauen sich byzantinische Kirchen an. „Es ist wunderschön hier“, sagt Bücklein, „aber wir fahren durch die Türkei und hören Podcast über Israel.“ Aktuell komme vieles hoch, was sie in den vergangenen Tagen erlebt hätten, sagen sie. Und wie geht es ihnen jetzt?

Auf diese Frage schweigen sie ein paar Sekunden im Videotelefonat. „Man kann nicht sagen gut. Es ist aber gut, darüber zu reden“, sagt Klusmann. Bücklein ergänzt: „Wir denken an die Menschen, die noch dort sind. Jeder hat seine eigene Geschichte zu dem Konflikt. Wir konnten einfach aus der Situation rausgehen, andere aber nicht.“

Das könnte Sie auch interessieren

„Freue mich, dass es in Überlingen keine Sirenen gibt“

Wann sie zurückfliegen, sei noch unklar. Sie wollten noch ein paar biblische Orte in der Türkei besuchen und dann in etwa zwei Wochen von Istanbul aus zurückfliegen. „Es ist noch irreal nach Hause an den Bodensee zu fahren“, sagt Bücklein. Klusmann meint: „Ich freue mich, dass es in Überlingen keine Sirenen gibt.“