Er sitzt nur da. Seine stahlblauen Augen verraten nichts über die Gefühle dieses Mannes. Er trägt einen grauen Vollbart, eine eingenässte Jens, seine Füße sind nackt. Sein zu Hause ist die Straße. Tage – und vor allem Nächte – verbringt er in einer Bushaltestelle an der Lippertsreuter Straße. Schweigend. Die Schülerinnen und Schüler, die hier auf ihren Bus warten, können sich seinem Geruch nicht entziehen. Immerhin, er lebt.
Als das Thermometer im September in Richtung Gefrierpunkt ging, deckte er sich mit einer einfachen Fließdecke zu. Die Gefahr, dass er in der nächsten Frostnacht erfrieren würde, war nicht von der Hand zu weisen.

Die Polizei ließ ihn vom Arzt untersuchen
„Das Problem im vorliegenden Fall ist, dass sich die Person nicht helfen lassen möchte.“ Oliver Weißflog, Sprecher des Polizeipräsidiums Ravensburg, weiß um die verschiedenen Hilfsangebote, „die er aber ausgeschlagen und es vorgezogen hat, sich in die Obdachlosigkeit zu begeben“. Eine amtsärztliche Untersuchung sei zu dem Ergebnis gekommen, „dass der Mann sich sehr wohl seiner Situation bewusst und auch im Klaren darüber ist, dass mit diesem Zustand diverse Gefahren verbunden sind“.
Sein Akzent verrät seine Herkunft
Leid, Schmerz, keine Sehnsucht nach sozialen Kontakten? Der Mann gibt Rätsel auf. Wir setzen uns zu ihm, stellen uns als Journalisten vor, es ist der 2. Oktober. Erst schüttelt er auf Fragen nur den Kopf. Will nichts haben, nichts trinken, nichts essen, will keinen Schlafsack, keine Schuhe, will nicht sprechen. Auf den Hinweis, dass ihn die Polizei angesprochen habe, reagiert er mit einem zaghaften Nicken. Auf die Frage, was die Beamten von ihm wollten, antwortet er mit schwäbischem Akzent, ganz leise: „Die hond‘ mi halt gfrogt, wie es goht.“ (Sie haben mich gefragt, wie es geht.) Ob er keine Angst habe zu erfrieren? „I bin warm anzogä.“ Die Frage, ob er aus dem Schwäbischen stamme? Keine Antwort. Warum er sich ausgerechnet diese Bushaltestelle aussucht? „Man sitzt gut.“
Die juristische Betrachtung
Die Polizei geht davon aus, dass der Mann einsichtsfähig und imstande ist, einen eigenen Willen zu bilden. Das habe die amtsärztliche Untersuchung ergeben. Polizeisprecher Weißflog berichtet, dass in so einem Fall vonseiten der Polizei nur dann Maßnahmen ergriffen werden dürfen, wenn eine unmittelbar bevorstehende Lebens- oder schwere Gesundheitsgefahr vorliegt. „Das könnte an äußerst kalten Tagen der Fall sein.“ Tatsächlich habe man ihn deshalb schon in Schutzgewahrsam genommen. „Das kann allenfalls eine kurzzeitige Abwendung der aktuellen Gefahr darstellen und keine Dauerlösung sein.“
Spagat zwischen Schutz und Freiheit
Der Stadt Überlingen sind genauso die Hände gebunden. „Eine Einweisung gegen den Willen des Patienten ist nur möglich – dann aber natürlich zwingend erforderlich – wenn eine akute und erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt und keine andere Möglichkeit mehr besteht, den Erkrankten oder seine Umgebung durch weniger einschneidende Maßnahmen zu schützen.“ Es sei zwischen maximaler Protektion (Unterbringung) sowie maximaler Freiheit abzuwägen und im Zweifel ein Gutachten einzuholen.

Was sagt der katholische Pfarrer?
Vielleicht ist die barmherzige Kirche eine Instanz, die Zugang zu ihm findet. „Er ist sehr wortkarg“, weiß der katholische Stadtpfarrer Bernd Walter, der ihn ansprach. „Er spricht fast nichts, und wenn, dann ganz leise, fast kindlich und lieb.“ Erstmals habe er ihn im Frühsommer 2021 gesehen, seither gehe es nach allem, was man optisch beurteilen kann, weiter bergab. „In den letzten Tagen habe ich ihn des Öfteren an der Bushaltestelle gesehen: ohne Schuhe, recht ungepflegt und runtergekommen. Das war er im letzten Jahr nicht“, sagte Pfarrer Walter Anfang Oktober. Er erfuhr auch von anderen, die ihm helfen wollten. „Aber komischerweise liebt er sein Leben so, und will nichts.“
Auch Profis in der Obdachlosenunterkunft sind machtlos
Stefanie Leonhard, Leiterin einer Obdachlosenunterkunft „Die Herberge“ in Friedrichshafen, sagt, dass es manchmal sehr lange dauert, bis sich jemand öffnet. In Kontakt bleiben, Gesprächsbereitschaft signalisieren, aber niemandem ein Gespräch aufzwingen: So ein Prozess könne sich über ein, zwei Jahre hinziehen. „Vielleicht gelingt es auch gar nie.“ Die Gründe, warum ein Mensch keine Hilfe annehmen kann, seien vielfältig und müssten respektiert werden, so lange keine Fremd- oder akute Eigengefährdung vorliegt. „Manche Kunden kommen zu mir und fragen, warum man ihnen denn immer ‚Tipps‘ geben will. Sie wüssten schon selbst, was ihnen gut tut.“