„Kultur verbindet“ ist auf einem Wahlplakat des OB-Kandidaten Martin Hahn zu lesen. Darauf ist eine bestimmte Person zu erkennen: Michael Roggon. Er ist einer der Vorstände des gemeinnützigen Vereins Überlinger Kulturschutzgebiet. Er ist gelernter Koch und heute künstlerischer Leiter der Galerie Käsering in Überlingen. „Koch und Künstler: beides schöne, gestaltende Berufe“, kommentiert er. Roggon hat an der Universität der Künste in Berlin erst gelernt, dann gelehrt.
„Überlingen muss sich entscheiden, ob es Kultur will“
Nachdem er in unterschiedlichen Städten gelebt hat, ist der 40-Jährige 2021 in seine Heimat Überlingen zurückgekehrt. Er ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mit dem Verein versuchen er und die anderen Mitglieder seit der Gründung 2021 einen Ort für Kunst und Kultur zu schaffen. In diesem Sinne verstehen sie den Verein als Berufsverband für Kulturschaffende mit einem klaren Auftrag: die Stadt für eben diese attraktiver zu machen.

Der Verein will Gegenwartskunst eine Kultur geben. Er will Austausch, Räume und Vernetzung von Künstlern in der Stadt fördern. Eine Herausforderung, denn Roggons Ansicht nach ist das Kunstverständnis im ländlichen Raum in erster Linie historisch geprägt. Der Fokus liege damit auf einem Katalog etablierter Vorstellungen, wie Kunst zu sein hat – aber das nähme ihre Freiheit. Deshalb wird Roggon deutlich: „Vor allem verpasst man dadurch die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Überlingen muss sich entscheiden, ob es Kultur will, weil sie sonst geht.“
Gentrifizierung vertreibt Künstler
Steigende Mieten, erhöhte Nachfrage auf Wohn- und Arbeitsräume und andere Gentrifizierungseffekte hinderten weniger wohlhabende Personen, zu den junge Künstler und Kunststudenten oft gehören, die notwendigen Ateliers zu beziehen. Kulturschaffende und Existenzgründer wanderten deshalb laut Vereins-Webseite in zugänglichere Regionen. Die Schlussfolgerung: „Das wird in absehbarer Zeit zu einem Überlingen ohne neue Impulse führen.“
Bei der Stadtverwaltung sieht man darin ein Problem ohne Lösung: „Gentrifizierung durch steigende Mieten ist ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen, das für alle Städte weltweit eine bisher unlösbare Herausforderung darstellt“, heißt es dort auf Nachfrage. Und entgegen der Einschätzung des Vereins, sagt Kulturamtsleiter Michael Brunner: „Im Verhältnis zur Einwohnerzahl gibt es ungewöhnlich viele Kulturschaffende und private Kultureinrichtungen in unserer Stadt.“

Ähnliche Räume vielerorts schon vorhanden
Vorbild des Kulturschutzgebietes ist der Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart. Eine Kampagne der Wagenhalle stand zugleich Pate für den Namen Kulturschutzgebiet. Dessen Internetauftritt zufolge ist das „ein strategischer Ansatz des Kunstvereins Wagenhalle, die Flächen in den Fokus der Stadtentwicklung zu rücken“. Geboten werde „ein Ort der Begegnung für Kunst, Kultur und Veranstaltung“. Das Neuwerk in Konstanz zählt Michael Roggon zu den vergleichbaren Räumen. Auch Radolfzell habe mit der „Kunst für Zukunft“- Halle (KFZ) ein ähnlich gelagertes Projekt. Das KFZ bietet laut Selbstbeschreibung „einen partizipativen Ausstellungsraum, an dem Gegenwartskunst dazu einlädt, sich mit aktuellen Themen und Fragestellungen auseinanderzusetzen“. Weil eben das in ihrer Stadt fehle, will das Überlinger Kulturschutzgebiet eine solche Sphäre etablieren.
Roggon betont, dass Raum für Begegnung nicht Veranstaltung heißt, es könne auch ein konsumfreier Ort sein. „Zeitgenössische Kunst und Kultur sind so breit, da ist für jeden etwas dabei“, antwortet Max Balser auf die Frage, wie ihr Verein zum Stadtleben beiträgt. Auch Balser ist Teil des Vorstandes des Kulturschutzgebietes. Der 32-Jährige ist gelernter Zimmermann. In seien Werken verbindet er Kunst, Architektur und Handwerk, beschreibt er.
„Da wird Geld verschenkt“
„Alle haben das Gefühl, bei Kunst zahle man drauf“, sagt Roggon. Das sei jedoch unbegründet. Aufgrund der historischen Vorstellung von Kultur würden oft Drittmittel, etwa vom Land oder der EU, gar nicht erst beantragt, weil der Verwaltung gar nicht bekannt sei, dass es sie gibt, schildert er. „Da wird Geld verschenkt“, fasst er seine Sicht zusammen.

Kulturamtsleiter Michael Brunner argumentiert: „In Überlingen sind generell, wie auch in anderen Kommunen vergleichbarer Größe, nur Projektförderungen möglich, keine institutionellen Förderungen.“ Bezuschusst würden vor allem publikumswirksame Großveranstaltungen, wie etwa das Sommertheater. Allerdings werde jedes Jahr auch Gegenwartskunst präsentiert, etwa in der Städtischen Galerie Fauler Pelz. Seit diesem Herbst auch bei den neu gegründeten Überlinger Musiktagen. Auch habe der Verein anlässlich des Stadtjubiläums eine vierstellige Projektförderung erhalten und in diesem Jahr eine dreistellige finanzielle Förderung. Dass nur ein Bruchteil aller Künstler ausschließlich von ihrem Schaffen leben kann, ist für den Kulturamtsleiter „bedauerlich, aber unabänderlich“. „Daran kann keine Kommune etwas ändern, weder Berlin noch Überlingen“, sagt Brunner.
Heimatlose Raumgeber
Derzeitiges Domizil des Vereins ist das Omega B in der Hafenstraße. Den Namen hat es von den auffälligen Symbolen an der Eingangstür des Hauses, zweimal der griechische Buchstabe Omega und ein großes B. Dahinter können angehende und aufstrebende Künstler beispielsweise lernen, ihre eigenen Werke zu kuratieren und Ausstellungen zu machen, erklärt Roggon. Im Kramer-Areal hätte der Verein Räumlichkeiten gern zwischenzeitlich genutzt, ohne Erfolg. Auch das Omega B ist nur ein Raum auf Zeit. Für Balser und Roggon unerheblich. Sie verstehen das Kulturschutzgebiet als Projekt, das eine Stadt der Gegenwartskunst öffnen kann und nicht als bloßen Raum.