Plötzlich laufen Gina Oswald Tränen über die Wangen. Sie erzählt bereitwillig ihre Geschichte, auch wenn ihr das sichtlich zusetzt. Derweil kämmt ihr Christine Huiss durch das dichte, lockige Haar und bringt den Schnitt wieder in Form. An diesem Sonntag ist der Sozialraum der Überlinger Caritas zum improvisierten Friseursalon geworden, wo Mitstreiter der Barber Angels Menschen, die in Obdachlosenunterkünften wohnen, die Haare schneiden. Und das völlig umsonst.

Obdachlosigkeit nach Krankheit

Gina Oswald erzählt von dem bürgerlichen Leben, das sie mit ihrem Mann geführt hat. Sie hatten eine Wohnung, ein Auto und Arbeit. Dann stürzte sie, konnte nicht mehr laufen, ihr Mann musste Arbeit und Pflege seiner im Rollstuhl sitzenden Frau meistern und wurde selber krank. Irgendwann war die Arbeit weg und die Wohnung auch. Die beiden leben jetzt in der Obdachlosenunterkunft Ottomühle, was Gina Oswald als sehr belastend beschreibt. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und versucht tapfer nach vorne zu sehen. Sie sei dankbar für den professionellen Haarschnitt und froh, langsam wieder einige Schritte laufen zu können.

Lokale Betriebe unterstützen die Aktion

Nebenan erledigt Sandra Kantorczyk die letzten Feinheiten und reicht Karl Neithard den Handspiegel. Der 66-Jährige lächelt. „Das ist ein tolles Ergebnis“, freut er sich. „Bis dahin gingen meine Haare vorher“, sagt er und hebt die Hand auf Nasenhöhe. Zum Friseur gehe er maximal zwei bis dreimal im Jahr. Auch er wohnt in der Ottomühle. Karl Neithard bedankt sich bei Sandra – hier sind alle per Du – legt das Cape ab und geht in den Nachbarraum. Im Sitzungszimmer der Caritas steht ein kleines Buffet mit Kaffee, Kaltgetränken, Brezeln und Gebäck bereit. Die Aktion wird von lokalen Händlern unterstützt, Bäckerei Baader stiftete die Backwaren, der dm-Markt eine Reihe von Haarpflegeprodukten.

Karl Neithard reichten die Haare vor dem Schnitt weit über die Ohren. Gleich kann er sich die neue Frisur, die ihm Sandra Kantorczyk ...
Karl Neithard reichten die Haare vor dem Schnitt weit über die Ohren. Gleich kann er sich die neue Frisur, die ihm Sandra Kantorczyk schneidet, erstmals im Spiegel ansehen. | Bild: Sabine Busse

Die Menschen bekommen ihre Würde zurück

Für die Organisation des Termins heute ist Elke Asimi zuständig. Sie ist bei den Barber Angels im Organisationsteam tätig. Wie die Friseure macht sie das ehrenamtlich. „Wir möchten in unserer Freizeit Gutes tun“, erklärt sie. Die Initiative, die 2016 in Biberach ihren Anfang nahm, ist mittlerweile international aktiv. Friseure schneiden dabei Obdachlosen und bedürftigen Menschen die Haare und geben ihnen so einen Teil ihrer Würde zurück.

Elke Asimi gehört zum Organisationsteam der Barber Angels. Die Gäste dürfen sich nach dem Frisieren noch gespendete Pflegeprodukte und ...
Elke Asimi gehört zum Organisationsteam der Barber Angels. Die Gäste dürfen sich nach dem Frisieren noch gespendete Pflegeprodukte und Lesebrillen mitnehmen. | Bild: Sabine Busse

Barber Angels sind zum ersten Mal in Überlingen

In Überlingen sind sie heute zum ersten Mal. Das hat mit dem neuen Projekt der Stadt und der Caritas zur Wohnungslosenhilfe zu tun. Es wird hauptsächlich von EU-Mitteln finanziert und bietet Obdachlosen und solchen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, Beratung und Hilfe an. Ina Hoppe hat das Konzept dazu erarbeitet und ist seit April in dem Team der Sozialarbeiter tätig. Sie hat auch den Kontakt zu den Barber Angels hergestellt, die heute mit drei Friseurinnen und der Organisatorin hier sind. „Die soziale Teilhabe ist ein großes Thema“, sagt Ina Hoppe. Es sei wichtig, die Bewohner der Unterkünfte einmal raus und in die Stadt zu holen.

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Die Gruppe besteht hauptsächlich aus älteren Leuten, aber auch ein paar jüngere sind gekommen. Ihr Ansprechpartner ist Streetworker Carlos Goeschel. „Das ist eine Kooperation der Caritas mit der mobilen Jugendarbeit“, erläutert er. Die Zielgruppe sind Jugendliche und junge Erwachsenen bis 27 Jahre. „Das ist das erste gemeinsame Projekt“, fügt Goeschel an, weitere sollen folgen.

Der Gesellschaft etwas zurückgeben

Sandra Kantorczyk legt zwischen zwei Gästen, so nennen sie die zum Haareschneiden gekommenen Leute, eine Kaffeepause ein. Seit 2018 macht sie schon bei den Barber Angels mit. „Ich habe etwas gesucht, bei dem ich der Gesellschaft etwas zurückgeben kann“, sagt sie. Als sie von einer Kollegin von der Aktion erfuhr, dachte sie sich „Haare schneiden kann ich!“ Heute ist sie aus Freudenstadt angereist – lange Wege seien in Baden-Württemberg nun mal üblich.

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„Die Dankbarkeit der Gäste gibt mir viel“, sagt sie. „Es ist wichtig, dass den Menschen nicht anzusehen ist, dass sie bedürftig sind!“ Betroffen macht sie Altersarmut und wenn Gäste ihnen Geld geben wollen, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Dabei gehe es nicht nur um einen Haarschnitt. „Viele kennen ja überhaupt keine körperliche Berührung mehr“, fügt Kantorczyk an. „Eigentlich müssten viel mehr Leute ein Ehrenamt machen, dann würden alle wieder menschlicher.“

Friseurinnen haben weite Anfahrt

Auch Christine Huiss hat eine weite Anfahrt in Kauf genommen. Sie wohnt in Tübingen und macht seit Mai bei den ehrenamtlichen Friseuren mit. Nach ihrer Motivation gefragt, sagt sie: „Für Leute was Gutes tun. Die freuen sich riesig!“ Ein Haarschnitt sei wichtig für das Selbstwertgefühl. Außerdem wisse niemand, was einem selbst noch passiert im Leben. „Es kann jeden treffen!“ Dabei sieht sie rüber zu einem grauhaarigen Herren am Nachbartisch. Sie hat ihm die langen, zum Zopf gebundenen Haare geschnitten und eine Kurzhaarfrisur verpasst. „Jetzt sieht er zehn Jahre jünger aus!“, freut sich Huiss.