„Kommen Sie rein“, begrüßt Jasminka M. freundlich ihre Gäste und öffnet die Tür. Der Wohnraum dahinter ist blitzsauber, auf dem kleinen Tisch stehen Getränke bereit. Noch ist ihr Zuhause recht spärlich möbliert, aber Jasminka M. fängt gerade erst an – mit 71 Jahren. Die Zweizimmerwohnung in der Überlinger Altstadt ist ihre erste eigene Wohnung seit 30 Jahren. So lange lebte sie in der Obdachlosenunterkunft Ottomühle.

Sie freut sich auf ihr neues Leben und will es ohne Stigmatisierung antreten. Deshalb soll hier nur ihr Vorname genannt werden. Sie hat sich bereit erklärt, dem SÜDKURIER ihre Geschichte zu erzählen, weil sie so unglaublich dankbar ist, endlich ihre eigenen vier Wände zu haben. Damit geht für sie eine ebenso lange wie belastende Zeit zu Ende.

Wohnung für Obdachlose: Ein seltener Glücksfall

Die entscheidende Hilfestellung zu diesem späten Schritt aus der Obdachlosigkeit leistete Jürgen Thurner. Der Sozialarbeiter ist bei der Caritas beschäftigt, bei der das Projekt „Klar zur Wende! Wohnungslosigkeit in Überlingen beenden“ angesiedelt ist. Dieses wird hauptsächlich von der EU und dem Bund gefördert.

Es sei ein seltener Glücksfall, jemanden nach so langer Zeit in eine Wohnung zu vermitteln, betont Thurner. Vermieter ist der Spital- und Spendfonds Überlingen und die Liste mit Namen von Menschen, die auf eine solche Sozialwohnung warten, ist lang.

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Das Projekt zur Unterstützung von „am stärksten benachteiligten Personen“ startete 2023. Die Mitarbeiter der Caritas bieten seitdem Beratung für Menschen an, die von Obdachlosigkeit bedroht sind. Dazu gehen sie alle 14 Tage mit Kaffee und Kuchen zu den Unterkünften Ottomühle und Reutehöfe. So kommen sie mit den Bewohnern ins Gespräch und lernen deren Probleme kennen.

Lange Wartelisten für Sozialwohnungen

„Eineinhalb Jahre lang kam Frau M. dazu, wenn wir die Unterkunft besucht haben. Sie war immer freundlich, hat einen Kaffee getrunken, aber nie um Hilfe gebeten“, erinnert sich Jürgen Thurner. Erst Ende letzten Jahres sprach ihn Jasminka M. an: „Ich bin alt und krank. Ich muss hier raus!“

Jürgen Thurner nahm Kontakt mit der Verwaltung auf, wo die Liste mit Menschen geführt wird, die eine Sozialwohnung benötigen. Jasminka M. stand seit Jahren darauf, war auch stetig nach oben gerückt, aber von ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung wusste man dort nichts. Die Aktualisierung hatte Einfluss auf die Sozialpunkte und verbesserte den Listenplatz. Als die Wohnung in der Altstadt vor vier Monaten frei wurde, konnte Thurner ihr die gute Nachricht überbringen.

Flucht vor dem Krieg: So kam Jasminka nach Überlingen

„Ich konnte es am Anfang gar nicht glauben“, sagt Jasminka M. „Meine letzte eigene Wohnung hatte ich vor dem Krieg in Jugoslawien.“ Eine schöne Wohnung, sei das gewesen, sagt die Bosnierin wehmütig. In ihrer Heimat hat sie Literatur studiert und arbeitete 15 Jahre lang als Lehrerin in einem Gymnasium. Doch dann kam der Krieg und sie musste alles zurücklassen, um ihr Leben zu retten.

Jasminka M. kam 1995 als Flüchtling zusammen mit ihrer Mutter, die gerade eine Krebsoperation hinter sich hatte, und ihrer Tante nach Überlingen. Sie wurden direkt in der Baracke beim heutigen Entsorgungszentrum untergebracht. Es sollte nur für den Übergang sein, drei Monate etwa, erinnert sie sich. Es wurden drei Jahrzehnte.

Die Ottomühle wird zur Obdachlosenunterkunft

Jasminka M. erzählt, dass erst immer wieder der Aufenthaltsstatus geprüft wurde, dann verhinderte die Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter die Suche nach einer Arbeit. Auch die Tante benötigte Hilfe, sie war traumatisiert und depressiv. Den Sprachkurs, den Jasminka M. besuchte, bezahlte sie selbst. Angebote für Geflüchtete mit Aufenthaltsperspektive gab es damals noch nicht. Anfangs sei es noch erträglich gewesen in der Unterkunft, erinnert sie sich. Doch dann kamen immer mehr Menschen.

Bild 1: Obdachlosigkeit am Bodensee: 71-Jährige findet nach 30 Jahren eine eigene Wohnung
Bild: Sabine Busse

Aus dem provisorischen Flüchtlingsheim wurde eine Obdachlosenunterkunft. Die Belegung wurde diverser und enger, mehr junge Leute kamen dazu, andere Kulturen und Lebensrhythmen. „Es gibt oft Probleme“, sagt Jasminka M. Sie hatte ein eigenes Zimmer, teilte sich aber das Bad und die Küche mit den Mitbewohnern. Die hygienischen Zustände beschreibt sie als problematisch, dazu „der Lärm und oft Streit“.

Wohnungssuche in Überlingen blieb erfolglos

Wegen der Betreuung ihrer Mutter und Tante konnte sie nicht Vollzeit arbeiten. „Deutsche Schulen brauchen keine Lehrerin, die Serbokroatisch unterrichtet“, sagt sie schulterzuckend. In einer Klinik war sie acht Jahre als Helferin in der Küche und beim Putzen tätig, bis der Job gestrichen wurde.

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Sie habe versucht, selbst eine Wohnung zu finden, berichtet Jasminka M., stellte Anträge beim damaligen Wohnungsamt und ließ sich bei der Überlinger Wohnungsbaugenossenschaft auf die Liste setzen. Doch die einzigen beiden Angebote waren entweder zu klein für drei Leute oder für die Mutter nicht erreichbar im dritten Stock. Mittlerweile sind ihre Mutter und ihre Tante verstorben.

Warum Obdachlose es alleine schaffen wollen

„Das Beispiel zeigt, dass Obdachlosenhilfe Zeit braucht“, erläutert Jürgen Thurner. Zeit, die Menschen und ihre Situation kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. „Wichtig ist, dass wir sehr niederschwellige Angebote machen“, fährt er fort. Eine Beratungsstelle reiche nicht, sie müssten zu den Leuten gehen und ins Gespräch kommen. Jasminka M. wollte es alleine schaffen. Wer einmal so ganz anders gelebt hat, will nicht als Bittsteller auftreten, hat seinen Stolz. So nahm sie bis jetzt viele Hilfen nicht in Anspruch und hat erst seit Kurzem einen Tafelausweis.

So schützt die Caritas vor Wohnungslosigkeit

Eine Wohnung für Menschen zu finden, die in der Obdachlosigkeit gelandet sind, sei extrem schwer, betont Jürgen Thurner. Am meisten könnten sie unterstützen, dass es gar nicht erst so weit kommt. Wer vom Vermieter die Kündigung angedroht bekommt, weil beispielsweise Mietzahlungen ausstehen, solle sich so früh wie möglich bei ihnen melden.

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Oft ließe sich mit einem Gespräch und einer finanziellen Überbrückung das Schlimmste verhindern. Die Ansprechpartner bei der Caritas helfen, Ansprüche zu klären, Anträge zu stellen oder vermitteln einen Besuch bei der Schuldnerberatung.

Jasminka M. will nun als Nächstes den Sozialpass beantragen. Die Wohnung hat ihr sichtlich Selbstvertrauen gegeben. „Es gefällt mir sehr gut hier“, strahlt sie. „Ich kann wieder Besuch bekommen und habe sehr nette Nachbarn!“