Was hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesellschaftlich getan hinsichtlich der Akzeptanz von psychisch Erkrankten in der Gesellschaft? Wie hat sich das Gemeindepsychiatrische Zentrum (GpZ) entwickelt und wie wird dort geholfen, mit dem Leben zurechtzukommen? Anstelle eines Festakts zu dem 20-jährigen Bestehen des GpZ Überlingen hat sich Geschäftsführer Ingo Kanngießer mit Kollegen und Betroffenen ausgetauscht.
Viele reagieren mit Scheu und Unverständnis
„Es hat sich verändert und ich glaube sogar ein bisschen gebessert“, beurteilt Ingo Kanngießer die Situation. Er begleitet das gemeinnützige Unternehmen vom ersten Tag an. Als erfahrener Fachmann weiß er, dass auch heute noch eine gewisse Scheu besteht gegenüber Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Kanngießer nennt sie den „blinden Fleck“.
Sylvia Dymke weiß, wovon er spricht. Mutig erzählt sie ihre Krankheitsgeschichte. Sie begann vor etwa 30 Jahren. Die ehemalige Touristikerin berichtet, wie schwierig es war, sich mit einer Psychose in ihrem damaligen Umfeld zu bewegen. Sie stieß auf viel Unverständnis und verlor ihre Freunde. Unterstützung und Struktur fand die psychisch kranke Mutter im GpZ. „Hier haben sie mich mit Baby wohlwollend aufgenommen“, erinnert sie sich. Heute arbeitet sie in der GpZ-Küche. „Und das Baby studiert mittlerweile soziale Arbeit“, fügt sie zufrieden lächelnd hinzu.

Neue Tagesstätte ist inzwischen akzeptiert
Rick, der Vorsitzende des Werkstattrats, erzählt von anfänglich kritischen Blicken der Anwohner gegenüber Besuchern der neu eröffneten Tagesstätte Taff in der Breitlestraße 28 im vergangenen Jahr. „Man hat gespürt, dass sie darauf warten, dass etwas Negatives passiert“, beschreibt der junge Mann seine Wahrnehmungen. Heute haben sich die Wogen geglättet. Die Nachbarschaft habe den Tagestreff akzeptiert. „Das Schlimmste ist, wenn Menschen nur auf ihre Krankheit reduziert und als Person gar nicht mehr wahrgenommen werden“, meint Astrid Hermann vom Begleitenden Dienst. Bei ihnen in der Einrichtung stehe der Mensch im Mittelpunkt, „abseits des Diagnosestempels“.
Psychische Störungen wie eine Psychose zeigen sich laut Kanngießer auf unterschiedlichste Art und Weise. Eine Diagnose sei daher wenig hilfreich in ihrer Arbeit. Wichtig sei es, die Person wahrzunehmen, darauf aufzubauen und zu unterstützen. „Bei uns kann ich ohne Anmeldung teilnehmen, wie ich gerade bin und mich fühle“, zieht Robert Egler das Beispiel des Tagestreffs heran, dessen Leiter er ist.
Überlinger Unternehmer sind offen
Die Akzeptanz von Menschen mit Beeinträchtigungen hat sich gemäß Geschäftsführung bis heute verbessert. Vor 20 Jahren seien die Kranken noch als faul und suspekt stigmatisiert worden. Heute wisse die Bevölkerung besser Bescheid. Sich zu outen zum Beispiel in einem Bewerbungsgespräch sieht der Experte immer noch als gleich schwierig an. Verbesserungsbedarf gibt es seiner Meinung nach beim Verständnis füreinander. Es seien Menschen aus allen Lebenslagen und allen Schichten betroffen. Auch, wenn sie keine sichtbaren Krankheitszeichen wie ein gebrochenes Bein vorzuweisen hätten, seien manche Klienten „tatsächlich auf Dauer eingeschränkt“. Bei den Betrieben in Überlingen und Umgebung erlebt Kanngießer weniger Vorbehalte als von den Klienten befürchtet.
Gesellschaft definiert sich nicht mehr über Arbeitsleistung
Unverbindliches Probearbeiten über zwei Wochen laufe oft gut. „Der Knackpunkt liegt bei der reduzierten Belastbarkeit“, so Kanngießer. Dabei seien sehr intelligente und gut ausgebildete Klienten unter den aktuell 110 im GpZ beschäftigten Betroffenen. Als Beispiel nennt er Rick, der nach seiner Lehre als Autodidakt in den Programmierbereich eingestiegen ist und heute dafür sorgt, dass die Verwaltungssoftware des GpZs mit weniger Aufwand betrieben werden kann.
Arbeitserzieher Siegfried Raus weiß als dienstältester Mitarbeiter, wie schwierig es im Alltag ist, ihre Klientel entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse zu betreuen und gleichzeitig den Anforderungen der Partnerfirmen gerecht zu werden. „Es ist jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung“, sagt er. Hilfreich für die Einrichtung und damit auch für alle Beteiligten ist, dass sich die Gesellschaft heute nicht mehr nur über Arbeitsleistung definiere. Um ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Selbstfürsorge wie bei dem Begriff Work-Life-Balance sei es im GpZ schon immer gegangen, so Kanngießer.