„Blumen, überall waren Blumen.“ Der damalige Oberbürgermeister Volkmar Weber erinnert sich daran, wie die Überlinger ihrem Schock über den Flugzeugabsturz von 2002 Ausdruck verliehen. Blumen und Kerzen, auch Kinderspielzeug und Puppen seien an verschiedenen Stellen abgelegt worden. „Das war wahnsinnig ergreifend.“
Volkmar Weber war am Abend des 1. Juli 2002 auf der Rückreise aus dem Urlaub, als er zehn Minuten nach dem Zusammenstoß einen Anruf seines Hauptamtsleiters Peter Männer erhielt. In Überlingen müsse etwas Schreckliches passiert sein. Was genau, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht.

Erste Pressekonferenz um 4.30 Uhr
Erst brachte Weber seine Frau nach Hause, dann fuhr er ins Rathaus. Bereits um 4.30 Uhr organisierte der Stab um Weber die erste Pressekonferenz im Kursaal. Der Oberbürgermeister war erstaunt darüber, wie hoch das Medienaufkommen zu dieser Zeit schon war. Über der Stadt und über dem Bodensee kreisten, wie Weber sich erinnert, Tornadoflugzeuge der Bundeswehr, um nach Überlebenden zu suchen. Vergeblich.

Die bizarre Situation: „Es war herrlichstes Wetter, an der Promenade waren Touristen und haben ihr Eis gegessen, sie waren voller Freude. Auf der anderen Seite dieses furchtbare Unglück.“ In für damalige Verhältnisse großem Tempo verbreiteten sich die verfügbaren Informationen in der Stadt. Es wurde zwar relativ schnell klar, dass es am Boden keine Schäden gab und niemand verletzt wurde. Dass aber Kinder tot vom Himmel gefallen sind, schuf das blanke Entsetzen.
Viele backten Kuchen für die Helfer
Die Situation ist in einer Hinsicht vergleichbar mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine: Es herrscht Ohnmacht über ein unbegreifliches Geschehen. Im günstigsten Fall schlägt sie um in eine große Hilfsbereitschaft. In Überlingen, erinnert sich Volkmar Weber, packten die Bürger an, wo sie irgendwie anpacken konnten. Viele backten Kuchen und schmierten Brote, um die offiziellen Hilfskräfte, weit über 1000 Polizisten, Feuerwehrleute und andere Hilfsdienste, zu versorgen.
Auch wurde schnell Geld gespendet, um den Angehörigen aus Baschkirien eine Reise an die Absturzstelle zu ermöglichen. Zimmervermieter stellten kostenlos Unterkünfte zur Verfügung. Wer des Russischen mächtig war, bot Dolmetscherdienste.
Im Moment, in dem die Hilfsbereitschaft entsteht, scheint sie selbstverständlich. Aber woher kommt diese Kraft? „Der Gegenpol von Ohnmacht ist Macht“, erklärt Aleksandra Schefczyk, Psychologische Psychotherapeutin, die als Kriseninterventionshelferin damals im Einsatz war. „Jeder hat in Überlingen jemanden gekannt, der etwas wusste, hörte oder erlebte und von dem Absturz betroffen war.“ Die emotionale Betroffenheit war riesig.“ Als man erfuhr, dass es um Kinder ging, erhöhte das die Hilfsbereitschaft noch weiter. Jeder konnte sich empathisch hineinversetzen in die Angehörigen, es herrschte eine menschliche Verbundenheit.“

Erste Trauerfeier im Münster um 17 Uhr
„Die Unglücksnacht habe ich verschlafen“, erinnert sich Hansjörg Weber, damals Stadtpfarrer. „Als ich am Morgen aufwachte und die Nachrichten im Radio hörte, glaubte ich mich verhört zu haben.“ In der ersten Schulstunde gab er Religionsunterricht. „Da haben mir die Kinder so vieles erzählt, was in der Nacht passiert ist.“ Noch am Morgen sei OB Volkmar Weber auf ihn mit der Bitte zugekommen, am Abend eine ökumenische Andacht im Münster abzuhalten.

17 Uhr: Das Münster war voll an Besuchern, bot es den Überlingen doch bereits wenige Stunden nach der Katastrophe einen Ort, an dem sie in Gemeinschaft ihre Sprachlosigkeit aushalten konnten. Es wurden 72 Kerzen, eine für jeden Verstorbenen, angezündet. „Da war eine riesige Anteilnahme zu spüren“, sagt Volkmar Weber, dem seine Frau im Laufe des Nachmittags endlich einen schwarzen Anzug bringen konnte, nachdem sie an den Polizeiabsperrungen kaum durchgekommen war. Weber: „Ich hatte ja praktisch noch das an, womit ich aus dem Urlaub zurückgekommen bin.“
Diplom-Psychologin Aleksandra Schefczyk hebt hervor, wie Ohnmacht bestenfalls geheilt und das Selbstwertgefühl erhöht werden kann: „Wenn ich etwas tue, spüre ich meine eigene Macht, meine Wirksamkeit. Es handelt sich hier um Grundbedürfnisse des Menschen, damit er psychisch gesund und glücklich sein kann.“ Die Bindung mit den Familien in Baschkirien sei damals vorhanden gewesen, wie jetzt das Gefühl der Wirksamkeit, wenn man Ukrainische Flüchtlinge aufnimmt. Schefczyk: „Wir fühlen uns besser, wenn wir helfen.“

Hilfe für die Helfenden
Am 4. Juli kamen die Angehörigen an den Bodensee. Pfarrer Hansjörg Weber: „Es war eine bedrückende Stimmung. Wir Pfarrer waren dabei, um durch das Dasein unser Mitgefühl auszurücken.“ Als sie wieder abreisten, baten die Helfer um Hilfe. Aus der Reihe der Rettungskräfte sei der Wunsch nach einem ökumenischen Gottesdienst gekommen, der nach Abschluss der Bergungsarbeiten stattfinden sollte.
So wurde am 7. Juli im Unglücksgebiet ein Feldgottesdienst abgehalten, die Angehörigen waren wieder abgereist. Pfarrer Weber: „Im Mittelpunkt sollten bei dieser Feier die Frauen und Männer der Rettungskräfte stehen, die schrecklichen Bildern bei der Bergung der Toten ausgesetzt waren.“
Ihr Blick streifte über den blauen See und die Dächer der Altstadt. Pfarrer Hansjörg Weber: „Vielen ging durch den Kopf, wenn dieser Zusammenstoß über der Stadt geschehen wäre und die Trümmer auf die Häuser, das Münster, das Krankenhaus gefallen wären. Der ersten Katastrophe wäre eine zweite gefolgt. Aber kein Haus, niemand am Boden wurde geschädigt. Wie ein Wunder. So stellte sich neben dem Entsetzen über die vielen Toten im Flugzeug auch eine Dankbarkeit ein, dass Überlingen nochmals davon gekommen ist.“
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