Die Vertreibung aus der Heimat, euphemistisch „Evakuierung“ genannt, war wohl die prägendste Lebenserfahrung derjenigen, die diese Tortour über sich ergehen lassen mussten. Am 14. Mai 1945 erging der Befehl der französischen Militärverwaltung, dass alle deutschen Bewohner des Jestetter Zipfels am kommenden Morgen ihre Heimat verlassen müssen.

Dieser Befehl kommt überraschend

Dieser Befehl kam überraschend, nachdem die Franzosen Ende April die Hochrheinregion besetzt und Radios, Fotoapparate, Schreibmaschinen und Waffen konfisziert hatten, doch aus den Dörfern im östlichen Zipfel auch bald wieder abgezogen waren. Am 8. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation, glaubte man, das Schlimmste sei vorbei, doch dann mussten 3500 Menschen über Nacht ihre Heimat verlassen. Nur Schweizerische Staatsangehörige durften bleiben, dazu noch ein paar Männer, die für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur (Wasser, Strom) notwendig waren.

Ein Zug in eine ungewisse Zukunft

Welche Szenen sich damals abgespielt haben, mag man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Die Wohlhabenderen packten ihre Habe auf Wagen, die von Zugtieren gezogen wurden. Vielen blieb aber nur ein Handwagen oder Kinderwagen, die mit dem Allernotwendigsten beladen wurden. Ein Zug in eine ungewisse Zukunft

Dass bis zum Ende des Jahres alle wieder in die Heimat zurückgekehrt waren, konnte Mitte Mai noch niemand erahnen.

Rolf Sanzenbacher war vier Jahre alt, als er die Heimat verlassen musste. Für ihn war das Ganze mehr ein Abenteuer.
Rolf Sanzenbacher war vier Jahre alt, als er die Heimat verlassen musste. Für ihn war das Ganze mehr ein Abenteuer.

Sie waren damals noch Kinder

Die Zeitzeugen werden naturgemäß immer weniger. Die heute noch Lebenden waren damals noch Kinder, die freilich eine bisweilen differenzierte Perspektive auf die Geschehnisse hatten. Der 84-jährige Rolf Sanzenbacher beispielsweise erinnert sich im Gespräch mit dem SÜDKURIER. „Uns Kindern wurde nicht gesagt, dass wir die Heimat verlassen müssen, wir hätten es vermutlich sowieso nicht verstanden“, weiß er zu erzählen und weiter: „Ich erinnere mich noch gut, dass unsere Kuh am Fuß geblutet hat, als wir unterwegs waren.“ Seine Aufgabe war es, die beiden Kühe mit Bremsenöl, einem Mittel gegen Stechfliegen einzureiben.

Viel weiter reichen seine Erinnerungen an die eigentliche Vertreibung nicht. Er war zwar ein Einzelkind, war allerdings viel mit seinem Cousin Werner Oßwald zusammen. Da sie als Letzte Altenburg verließen, also den Schluss des langen Trecks bildeten, fanden sie nur schwer eine Unterkunft im Schwarzwald, weil schon alle freien Plätze vergeben waren. „Es ist schwer irgendwo anzukommen, wo man nicht willkommen ist“, sagt Sanzenbacher. Hierzu muss bemerkt werden, dass die Menschen im Schwarzwald, die eben gerade auch den Krieg verloren hatten und unter fremder Besatzung standen, nicht nur die Vertriebenen aus dem Jestetter Zipfel, sondern aus vielen Regionen in ganz Deutschland aufnehmen mussten.

Weitere Erinnerungen einer Zeitzeugin

Rita Bierwagen war damals neun Jahre alt und erinnert sich noch gut an die Vertreibung. „Der 15. Mai war ein sehr heißer Tag, und wir standen sehr lange vor unseren Häusern.“ Um acht Uhr musste alles gepackt sein, der Abmarsch war für 11 Uhr geplant, doch nachdem sich dieser immer weiter verzögert hatte, hofften die Menschen darauf, bleiben zu dürfen. „Unter dem Läuten der Kirchenglocken zogen wir dann los“, erinnert sie sich.

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Glücklicherweise durften schon einige bereits zur Heuernte wieder in die Heimat, und ab Sommer kehrte die Bevölkerung langsam nach Hause zurück. Im November 1945 waren dann alle Vertriebenen zurückgekehrt. Der Lottstetter Pfarrer Hilser legte das Gelübde ab, als Dank für die glückliche Heimkehr, jährlich eine Wallfahrt nach Einsiedeln zu begehen. Diese fand erstmals im Jahr 1950 statt und wird bis heute unternommen.