Altenburg – Rita Bierwagen, geborene Altenburger, ist eine der letzten lebenden Zeitzeugen, die sich noch gut an die Ereignisse vom 14. Mai 1945 erinnern. Der Krieg war gerade zu Ende und die Menschen hofften auf eine bessere Zukunft. Doch sechs Tage nach Kriegsende wurde die Hoffnung der Menschen im Jestetter Zipfel mehr erschüttert, als es sechs Jahre Krieg vermochten: Die deutschen Bewohner des ehemaligen Zollausschlussgebiets wurden aus ihrer Heimat vertrieben.

„Ich war damals neun Jahre alt“, sagt Rita Bierwagen. „Mein Vater war im Krieg und niemand wusste, wie es weitergehen würde, doch wir glaubten, dass nun alles wieder in geregelten Bahnen verlaufen würde.“ Doch es kam anders. Julius Wipf, senior, von den Alliierten eingesetzter Bürgermeister, überbrachte den Altenburgern gegen Abend die Nachricht: „Wir mussten alles packen und sollten am nächsten Morgen Altenburg verlassen.“ Doch das war nicht so einfach. Fahrzeuge, so vorhanden, wurden von den französischen Besatzern beschlagnahmt, also waren die Menschen auf Zugtiere angewiesen. „Wir hatten aber nur drei Ziegen und die konnten keinen Wagen ziehen“, berichtet sie. Also waren sie, ihre Mutter und ihr kleiner Bruder auf einen Handwagen angewiesen. Der mürrische Nachbar mit Vieh und Wagen ließ sich erweichen, wenigstens das Bett der Familie mitzunehmen.

„Der 15. Mai war ein extrem heißer Tag“, erinnert sich Rita Bierwagen. Es sollte um 11 Uhr losgehen, doch dann hieß es, es werde verhandelt, vielleicht könne man doch bleiben. Aber die französische Militärverwaltung blieb hart. Unter dem Läuten aller Kirchenglocken ging es über die Löhr nach Jestetten, wo sich die Bewohner der drei Orte Altenburg, Jestetten und Lottstetten zu einem langen Zug zusammenfanden, den französische Soldaten begleiteten.

Am ersten Tag ging es bis Baltersweil. „Wir übernachteten im Holzschuppen der Zimmerei Werne“, berichtet die 89-jährige. Dann ging es nach Grießen, wo sie zwei Nächte bei Familie Stoll untergekommen sind. Die Altenburger wurden nach Weilheim und Nöggenschwiel geschickt, sie selbst durfte mit ihrer Familie nach Ühlingen zu den Großeltern. „Alle Häuser waren übervoll mit Flüchtlingen, einerseits aus dem Jestetter Zipfel, aber auch mit Menschen aus dem zerbombten Ruhrgebiet oder den deutschen Ostgebieten.“

Die Zeit vor dem Ende des Kriegs war eine besondere, erinnert sich Bierwagen. „Ich feierte am 28. April 1945 meine Erstkommunion. Zu dieser Zeit standen die Franzosen schon in der Region und waren auf der Suche nach NS-Funktionären.“ Offenbar kam es in Altenburg zu dramatischen Vorfällen um eine Familie Treibel, die in den Selbstmord getrieben wurde, um den Franzosen nicht in die Hände zu fallen. Die Verfolgung von NS-Tätern war einer der Gründe, den Jestetter Zipfel zu räumen. Glücklicherweise dauerte diese Vertreibung nicht lange – was aber niemand wissen konnte. Bis zum Herbst 1945 kehrten die Bewohner wieder zurück.

Der Lottstetter Pfarrer Hilser legte das Gelübde ab, als Dank für die glückliche Heimkehr jährlich eine Wallfahrt nach Einsiedeln zu unternehmen. Diese fand im Jahr 1949 erstmals statt. „Früher waren wir mit dem Sonderzug unterwegs, später mit Bussen“, gibt Rita Bierwagen zu wissen. Auch in diesem Jahr, am 28. September, geht es wieder nach Einsiedeln. „Ich kann gesundheitlich leider nicht mehr mitfahren. Ein ganzer Tag Programm ist für mich leider inzwischen zu viel“, sagt sie.